Erinnerungen

115 3 1
                                    

Noyamano Hana

Eine Sache werde ich nie im Leben verstehen. Wieso muss der Bus immer so früh losfahren? Wer hat sich das bloß ausgedacht? Immerhin ist Nagasaki jetzt nicht so weit weg, als das man um diese Uhrzeit aufstehen müsste. Todmüde ließ ich mich in den Sitz am Fenster fallen, während Kou neben mir Platz nahm und genauso fertig aussah wie ich. Vielleicht hätten wir es letzte Nacht nicht so übertreiben sollen. Hoffentlich kann ich jetzt im Bus ein bisschen schlafen. Nachdenklich sah ich mich um. Touma sitzt neben Futaba, da kann ich ihn ja schlecht drauf ansprechen. Aber seine Nachricht gestern hat mich doch irgendwie aus der Bahn geworfen. Ich solle mich nicht erschrecken über seine Wahl was den Klassenkameraden angeht, der ihn begleiten würde. Und ich müsse mich unbedingt zurückhalten, um Yuri's Willen. Ich verstehe das nicht. Yuri saß zwei Reihen vor uns auf der rechten Seite alleine am Fenster. Shuuko saß auf gleicher Höhe links vom Gang und neben ihr saß doch tatsächlich Aya. Aber warum sitzt Yuri alleine im Bus? Was ist hier los? Fragte ich mich und blickte überlegend aus dem Fenster. Meine Sicht wurde scharf als plötzlich eine männliche Silhouette durch mein Blickfeld hetzte. Im selben Moment startete der Motor. Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Doch das habe ich. Uchimiya Haruhiko. Aber das kann nicht sein. Sofort sprang ich von meine Sitz auf und krallte mich in die Lehne des Sitzes vor mir. Ungläubig starrte ich ihn an, wobei er mich nicht eines Blickes würdigte. Ich wollte seinen Namen laut aussprechen, doch ich ließ es bleiben. Wie ich es mir gedacht hatte, setzte er sich zu Yuri und ich befolgte Touma's Bitte. Dieser verdammte Verräter. Wie soll ich mit Haruhiko bloß eine Woche zusammen wohnen? Das schaffe ich nicht. „Hast du einen Geist gesehen?" Wollte Kou wie aus dem Nichts wissen und riss mich dadurch völlig überrumpelt von Haruhiko los. Total neben der Spur ließ ich mich zurück in den Sitz sinken und fixierte Kou's fragende Augen. Ob ich einen Geist gesehen habe? Ja, wäre wohl eine gute und ehrliche Antwort gewesen, was die Situation jedoch nicht erklärt hätte. Eine Situation von der ich nie im Leben geglaubt hätte, dass ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt darin wiederfinden würde. Aber das tat ich. Seine Haare stehen immer noch in alle Himmelsrichtungen ab, genau wie damals. Und er ist richtig groß geworden. Früher hat er sich oft beschwert, dass er nicht mehr wachsen würde. Denn ich war immer einen halben Kopf größer als er. Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Wir hatten immer so unendlich viel Spaß. Er war mein bester Freund. Bis zu jenem Tag. Haruhiko kam das letzte Mal zu mir nach Hause, als es draußen heftig angefangen hatte zu regnen. Es donnerte und blitze. Unsere jüngeren Brüder hatten sich verabredet und Haruhiko sollte seinen Bruder am Abend abholen kommen. Ich hatte gekocht, aber etwas fehlte und ich musste nochmal los um es zu besorgen. Meine Eltern sind bereits tot, die Beerdigung liegt wenige Tage zurück. Am nächsten Tag würde die Todesnachricht des Ehepaars die Öffentlichkeit implodieren lassen. Isamu war nicht Zuhause gewesen. Heute denke ich, dass er vielleicht bei Takuma war. Letztendlich hat er es nie mit Absicht getan so wie Takuma und dennoch hat mich Isamu immer mit allem alleine gelassen. Als ich vom Einkauf zurückkam, begann es zu regnen und dieser fremde Junge vor dem Anwesen schien auf mich zu warten. So kam es mir zumindest vor. Genau, auf einmal kam mir Haruhiko so unglaublich fremd vor. Seit dem Tod meiner Eltern fühlte sich die Welt um mich herum merkwürdig taub an. Der fremde Junge leuchtete zwar heller als die anderen Menschen um mich herum, aber ich konnte ihn dennoch genauso wenig erreichen. Ich schloss auf und bat ihn herein. Wir aßen gemeinsam und räumten ab. Dann hörte es auf zu gewittern und Souta und ich waren wieder allein. Doch ich wollte diesen fremden Jungen wiedersehen. Denn an diesem Abend hatten wir zum ersten Mal kein Wort miteinander gesprochen. Wir beide trugen plötzlich eine Last mit uns herum, die der andere nicht nachvollziehen konnte. Ich den Tod und er die Trennung. Beides eine Art von Abschied. Danach haben wir uns nie wieder gesehen. Als die Nachricht über den Tod meiner Eltern erschien, war er auf einmal nicht mehr da. Damit hatte ich alles verloren. Später musste ich erfahren, dass Haruhiko mit seiner Mutter urplötzlich ins Ausland verschwunden ist. Ich habe bitterlich geweint und dann nie wieder über ihn gesprochen. Ich habe ihn einen Verräter genannt. Unfair, nicht wahr? Aber wir waren Kinder gewesen, bloß Kinder. Irgendwann erfuhr ich von Souta, dass Haruhiko's jüngerer Bruder in dieselbe Klasse geht wie er. Der Verräter war also zurückgekommen. Aber bei mir gemeldet hat er sich nie. Und Souta sprach nicht sonderlich viel über dieses Thema. Nur einmal erzählte er mir, dass Haruhiko wohl von Zuhause abgehauen ist und das dritte Jahr jetzt woanders machen wird. Vielleicht habe ich mich gefragt, weshalb er von Zuhause weg wollte. Vielleicht habe ich mir sogar Sorgen gemacht. Aber der Verräter sollte mich nicht interessieren. Er sollte bloß wegbleiben. „Hana?" Ich vernahm Kou's Stimme und blinzelte ein paar Mal um mich von meinen Gedanken zu befreien. Mein Blick schweifte zu Haruhiko. Ja, er hätte einfach wegbleiben sollen. „Was ist mit dir?" Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich sah Kou an. „Brauchst du eine Pause? Wir fahren zwar noch nicht lange, aber der Fahrer hat sicherlich nichts dage- " Meinte Kou fürsorglich, doch ich Unterbach ihn harsch in seinen netten Worten. „Nein, es ist nichts!" Fauchte ich und drehte mich von ihm weg. Sehe ich wirklich so kränklich aus, wenn ich an Haruhiko denke? Stur starrte ich aus dem Fenster, dabei hat mir Kou nichts getan. Es hat doch nichts mit ihm zu tun. Wieso rede ich bloß so mit ihm? Ich will mich gerade zu ihm umdrehen um mich zu entschuldigen, als er seinen Arm um mich legt und mich fest an sich drückt. „Kou?" Hauche ich. „Erzähl es mir irgendwann, aber jetzt will ich dich einfach nur festhalten." Sagte er sanft und schloss völlig entspannt seine Augen. Ich hätte ihm noch so viel erzählen müssen. Allerdings sind wir beide absolut dagegen solche Dinge im Beisein anderer zu besprechen. Also lehnte ich mich an ihn und wir versuchten den Rest der Fahrt etwas Schlaf nachzuholen. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich ihm von Haruhiko erzählen.

Fortsetzung folgt...

Ao Haru RideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt