Kapitel 5

858 54 6
                                    

Für den nächsten Tag hatte ich mir vorgenommen, einmal ausgiebig mit Rumpelstilzchen zu reden. Ich hatte ein paar Fragen, die er mir unbedingt beantworten musste. Mir war bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht sonderlich viel Erfolg damit haben würde, doch irgendetwas sagte mir, dass er angefangen hatte, mir gegenüber offener zu sein. Vielleicht hatte ich ja Glück.

Doch zu meiner Enttäuschung war Rumpelstilzchen nicht da. Ich suchte in sämtlichen Räumen, doch er war nicht auffindbar. Als ich wieder dort ankam, von wo ich hergekommen war, gab ich schließlich auf. Er war nicht zu Hause. Es passte nicht zu ihm, einfach so das Schloss zu verlassen, ohne mir Bescheid zu sagen. War etwas passiert?

Ich beschloss, die Zeit zu nutzen und einfach meine Arbeit zu machen. Vielleicht war er schon wieder da, wenn ich fertig war.

Also ging ich in das obere Geschoss und fing an sauber zu machen. Wie sich innerhalb kürzester Zeit so viel Staub in den einzelnen Räumlichkeiten ansammeln konnte, war mir immer noch schleierhaft. Manchmal stellte ich mir vor, wie Rumpelstilzchen mit irgendeinem Zauber extra den Staub wieder zum Vorschein kommen ließ. 

Schließlich kam ich zu den letzten beiden Türen im Gang. In einer von ihnen hatte Rumpelstilzchen gestern gesessen. Ein Kribbeln machte sich in meinen Fingerspitzen bemerkbar und ich musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass dies wieder einmal meine Neugierde war. Ich ging auf die Tür zu und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Mit einem leisen Quietschen ließ sie sich tatsächlich öffnen. 

Der Raum sah immer noch genauso aus, wie gestern. Ich schaute noch einmal zurück, um mich zu vergewissern, dass Rumpelstilzchen wirklich nicht da war. Nichts zu hören. 

Also drehte ich mich wieder um und ging auf den Schreibtisch zu. Ich nahm mir ein paar von den arglos verteilten Blättern und betrachtete sie genauer. Auf den einen waren wunderschöne Zeichnungen von den verschiedensten Dingen, wie zum Beispiel Personen, Landschaften oder Stillleben. Und auf den anderen...Gedichte. Meine große Leidenschaft.

Lächelnd setzte ich mich hin und begann zu lesen. 

Ein jedes war schöner als das andere. Auch wenn die meisten von Verlust und Tod handelten. Doch es steckte so viel Herzblut und so viel Emotion in ihnen, dass sie mich sichtlich faszinierten.

Auf ein paar anderen Blättern, standen Sprüche, die kunstvoll verziert waren. Ich stieß ich auf einen Spruch, der mir ganz besonders gefiel.

Macht ist immer lieblos.

Liebe ist niemals machtlos.

Hatte Rumpelstilzchen etwa diese ganzen Gedichte und Sprüche selbst geschrieben? Selbst wenn nicht, es verblüffte mich allein schon dass er so etwas besaß. Doch es freute mich auch. Es zeigte mir, dass er tief in seinem Inneren kein kaltes Monster war. Aber das hatte ich mir bereits gedacht.

Ich sah mir eine der Zeichnungen noch einmal genauer an. Sie bildete einen kleinen Jungen ab. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augen und seine Gesichtszüge erinnerten mich an die von...Rumpelstilzchen.

Mir dämmerte unsere Konversation von dem gestrigen Abend. Er hatte angedeutet, Erfahrung mit Kindern zu haben. War dies möglicherweise eine Zeichnung von seinem Sohn?

Plötzlich fühlte ich mich wie eine unhöfliche Schnüfflerin. Ich sollte nicht einfach so Rumpelstilzchens Sachen durchsuchen. Schnell legte ich die ganzen Papiere wieder an ihren ursprünglichen Platz. 

Auf dem Schreibtisch stand sonst eigentlich nichts Besonderes. Ein Federkiel mit Feder, ein Tintenfass und eine halb abgebrannte Kerze. Von dem Bilderrahmen, den Rumpelstilzchen gestern in der Hand gehalten hatte, war nichts zu sehen. 

Beauty and the BeastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt