Kapitel 15 ❀ nouveau-née

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ALIÉNOR

Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, dass das erste Mal eine Großstadt betrat und die große Welt sah.

Den schlichten Strohhut auf dem Kopf fixierend ließ ich die frische Luft des Meeres meine nur locker frisierten Haare zerzausen. Meine Kleidung erwies sich als ausgesprochen angenehm, und sorgte dafür, dass ich unter den anderen Leuten nicht auffiel. Das erste Mal nach einer gefühlten Ewigkeit sah ich die Bürgerinnen und Bürger, die Angestellten und ganz normalen Menschen aus direkter Nähe.

Mir gefiel es, wie sie Französisch sprachen. Ich selbst hatte einen savoyischen Dialekt, während Louis-Antoine nahezu perfektes Französisch und Rafael mit einem spanischen Akzent sprach. Dank meines Kontaktes zu den umliegenden Bauern in meiner Kindheit konnte ich das einfache Volk auch verstehen, wenn sie bestimmte Floskeln oder Ausdrücke verwendeten. Ich hatte ganz vergessen, wie lustig manche Redewendungen waren.

„Majestät... vielleicht sollten wir etwas weitergehen", sprach mich einer der Soldaten, die Rafael und mich in die Stadt begleiteten, an. Auch er war wie meine anderen Beschützer als normale Bürgerliche getarnt.

„Ihr sollt mich doch nicht mit Majestät ansprechen", wisperte ich ihm mahnend zu. „Mich erkennt niemand ohne meine Aufmachung, ich möchte nicht durch meine Höflichkeitsanrede auffallen. Nennt mich einfach Louise - bei meinem Zweitnamen! Genau, ich bin jetzt Louise."

Breit lächelte ich den Soldaten an, dem dies wohl etwas unangenehm zu sein schien. Doch schließlich nickte er. „Nun gut, Majestät. Äh... Louise."

Von meiner Rechten vernahm ich ein leises Auflachen von Rafael. Obwohl ich es nach wie vor unangenehm in seiner Nähe empfand, schmunzelte ich ihm zu, ehe ich meinen Blick wieder auf die belebte Straße legte.

Einige Händler priesen hier ihre bunten Waren an, es duftete nach frischen Backwaren und die Sonne prickelte auf meiner Haut. Hier konnte man definitiv die letzten Momente des Sommers auskosten.

Jedoch fielen mir nicht nur die schönen Seiten des bürgerlichen Lebens auf. An einer Ecke entdeckte ich Straßenkinder, die nach etwas Geld bettelten. Ihre Kleidung war an einigen Stellen sehr zerrissen, die Gesichter schmutzig. Mein Herz setzte für einen kleinen Moment aus. Es handelte sich um ein kleines, dunkelhaariges Mädchen, das einen kleineren Jungen an der Hand hielt.

Ich trat einige Schritte heran und merkte, wie sich mein Herz vor Schmerz zusammenzog. Die meisten Passanten beachteten die Kleinen kaum.
„Furchtbar, nicht wahr, Mademoiselle?"

Erschrocken wirbelte ich herum. Eine etwas ältere Dame hatte mich angesprochen. Sie wurde von ihrem Gemahl und einem etwas jüngeren Mann begleitet, den ich aufgrund seiner Ähnlichkeit als deren Sohn identifizierte.

Für einen kurzen Moment hatte ich geglaubt, man hätte mich erkannt. Jedoch schauten die Bürger mich einfach lange an, da sie es selbstverständlich nicht für nötig sahen, sich zu verbeugen.

„Ja, Sie haben recht, Madame... ähm... haben diese Kinder denn kein Zuhause?", brachte ich schließlich tonlos hervor. „Oder existiert hier kein Waisenhaus?"

Auf den Lippen des älteren Mannes mit der Halbglatze bildete sich ein trauriges Lächeln, ehe er antwortete: „Das ist ein wahrhaft schöner Gedanke. Wir versuchen den Kleinen immer etwas zuzustecken. Einige Leute haben sogar schon probiert, die Kinder mitzunehmen... um ihnen zu helfen, versteht sich.
Jedoch haben sie zu große Angst. Das Betteln stellt für sie eine große Überwindung dar... Aber es fehlt an Personal, es fehlt an Waisenhäusern, an Hilfe für die Kranken und Verlassenen."

PRINCESS OF LILIES  ᵗᵉⁱˡ ᵛⁱᵉʳWo Geschichten leben. Entdecke jetzt