Kapitel 10

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Zur Feier des Tages, wie meine Eltern es bezeichneten, gingen sie am Abend mit uns in ein Restaurant. Sie schienen wirklich glücklich zu sein, als sie Jimin und mir gegenübersaßen und in die Speisekarte schauten.

Zu meiner eigenen Überraschung war ich auch ganz gut drauf. Jedenfalls hatte mich der Gedanke, essen zu gehen, nicht so sehr gestört wie erwartet.

Der Junge neben mir wirkte allerdings nicht gerade entspannt. Unter dem Tisch bewegte er das Ende der Tischdecke die ganze Zeit zwischen seinen Fingern. Er betrachtete das Besteck. Ich hatte da so eine Ahnung.

Tatsächlich legte er schließlich seine rechte Hand auf den Tisch und spielte mit seiner Gabel, bis sie quer neben seinem Teller lag. Dann war sein Messer an der Reihe und schließlich der Löffel. Alles sauber untereinander geordnet und wie mit einem Lineal abgemessen.

Danach wirkte er ruhiger und schaute meiner Mutter sogar in die Augen, als sie mit ihm sprach. Ich wusste nicht, ob sie es wirklich nicht bemerkt hatten oder einfach darüber hinweg sahen, doch der Kellner bemerkte es. Und Jimin bemerkte dessen Blick. Tapfer hielt er den Kopf erhoben, doch er wich allen Blicken aus und konnte niemanden ansehen, als er sein Essen bestellte.

Ich fragte mich, wie er so geworden war. Es wirkte wie ein Zwang, dass er sein Besteck so hinlegen musste. War es ihm so beigebracht worden?

"Jimin, erzähl doch mal ein bisschen über dich", bat meine Mutter etwas später und nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas.

Der Schwarzhaarige sah auf und blickte unsicher zwischen uns allen hin und her.

"Ähm, es gibt nicht besonders viel über mich zu wissen. Ich bin sechzehn Jahre alt, aber das wisst ihr ja, und ich besuche die gleiche Schule wie Yoongi. Aber das wisst ihr auch schon."

Er ließ den Blick wieder sinken und spielte mit der Tischdecke. Ich bemerkte, wie meine Eltern einen enttäuschten Blick austauschten. Es gab so viel mehr, was dieser Junge über sich erzählen könnte, doch er tat es nicht. Wahrscheinlich war seine Angst zu groß, auf Unverständnis oder Abweisung zu treffen.

Daran war ich wohl nicht gerade unschuldig.

"Er kann echt gut tanzen."

Meine Eltern schauten mich erstaunt an, während Jimin eher panisch zu mir rüber schaute. Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus meinem Glas Wasser.

"Ja, das stimmt." Seine Stimme war recht leise, doch meine Eltern hörten interessiert und mit einem Lächeln auf den Lippen zu. "Ich habe Ballettunterricht genommen, bis ich acht Jahre alt war."

Auf seinen Wangen bildete sich ein Rotschimmer. Wie süß. Moment, was war das bitte für ein Gedanke.

"Und danach?", unterbrach mein Vater meinen inneren Konflikt.

"Dann... Ich hab allein weitergetanzt."

Bedeutete das, das, was ich an diesem einen Abend in seinem Zimmer von ihm gesehen hatte, hatte er sich selbst beigebracht?

"Würdest du uns auch was vortanzen?" Meine Mutter wirkte ganz aufgeregt.

Jimin zögerte und spielte nun mit seinen Fingern. Ich konnte nicht anders, als ihn unauffällig in die Seite zu stupsen. Als er mich ansah, lächelte ich etwas, was ihm Mut zu geben schien. Er sah meine Mutter an und nickte.

Als unser Essen kam, wechselten wir das Thema und Jimin war sichtlich erleichtert, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.

-

"Yoongi spielt hervorragend Klavier, meinst du, du könntest dazu tanzen?" Die Stimme meiner Mutter klang, als hätte sie gerade um einen Welpen gebeten. Niemand hätte ihr jetzt etwas abschlagen können. So ging es wohl auch Jimin, der mich aus funkelnden Augen anschaute.

Ich zuckte mit den Schultern und bat meinen Vater mir zu helfen, das Klavier etwas zu drehen. Immerhin wollte ich nicht die Wand anstarren, während Jimin hinter mir tanzte. Ich wollte ihn sehen, wissen, ob er wieder so entspannt aussehen konnte.

Er hatte seine Jeans gegen eine dunkle Jogginghose ausgetauscht und einen flatterigen Pulli angezogen.

"Brauchst du ein bestimmtes Lied?"

Er schüttelte den Kopf und meinte, ich solle einfach irgendwas spielen. Das machte ich dann auch, ich liebte es, zu improvisieren und meine Finger ohne nachzudenken über die Tasten wandern zu lassen.

Nebenbei bewunderte ich die grazilen Bewegungen des Jungen und seine Fähigkeit, sich innerhalb von Millisekunden meinen Änderungen der Melodie anzupassen. Er tanzte zugleich gefühlvoll wie kontrolliert. Ein beeindruckendes Schauspiel.

Als ich beim Spielen immer schneller wurde, wurde auch er schneller, es war, als hätte er eine genaue Choreographie im Kopf, als er sich um die eigene Achse drehte und die Richtung wechselte. Die meiste Zeit über hatte er seine Augen nicht richtig auf, als wäre er in Trance.

Schließlich wurde ich langsamer und er ebenfalls. Als leise die letzten Töne verklangen, hatte er eine elegante Abschlussposition eingenommen, als würde er jemanden vermissen, den Arm von sich weggestreckt, während sein Blick sehnsüchtig zum Fenster gerichtet war.

Nur langsam schien er sich wieder klar zu werden, wo er sich befand. Sein Brustkorb hob und senkte sich angestrengt, während er sich langsam aufrichtete.

Ich wischte meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab und betrachtete ihn, wie er verunsichert zu meinem Eltern schaute, die auf dem Sofa gesessen hatten, inzwischen aber aufgestanden waren. Mein Vater hatte einen Arm um die Schultern meiner Mutter gelegt, die Tränen in den Augen hatte.

"Jimin, das war wundervoll!"

Langsam legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er sich vorbildlich verbeugte. Er wirkte zufrieden.

Brother's Love // YoonMinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt