Die Halle

109 7 0
                                    


Es war der 23. Dezember und fast das gesamte Dorf hatte sich in der grossen Halle versammelt. Die Kinder spielten fangen und erfreuten damit die Alten, welche es sich um das Feuer herum gemütlich gemacht hatten. Ein paar klagten über Gliederschmerzen und die Ärzte wurden die ganze Zeit vom Geschrei und Lachen der Kinder abgelenkt. Doch man konnte es ihnen verzeihen. Sie waren jetzt seit Tagen hier eingesperrt und man hatte bis jetzt nur den Jugendlichen nach Protesten erlaubt rauszugehen und den Erwachsenen zu helfen. Die meisten Eltern schliefen. Sie hatten die letzten paar Wochen damit verbracht, die Halle einzurichten und waren sehr erschöpft.

Die Tore flogen auf und rissen die Dorfbewohner aus ihren Tätigkeiten, denen sie bis jetzt nachgegangen waren.
Die Jugendlichen stürmten herein. Sie zerstörten die friedliche Stimmung, die in der Halle herrschte mit ihrem Gerede.
Eine Frau erhob sich. Ihre langen, blonden Haare waren zu einem kunstvollen Zopf geflochten. Mit energischem Schritt ging sie auf die Gruppe zu. Ihre Augen streiften über die Jugendlichen hinweg und blieben an einer Person hängen. „Sebastian, wo ist Daniel?"
Sebastian war der Anführer dieser Truppe. Die braunen Haare waren verstrubbelt und die blauen Augen schimmerten verschmitzt. Seine Haltung und sein Blick strahlten Autorität aus. Doch das Reden übernahm wie immer seine Freundin. Wenn er mal etwas sagte, dann regte er sich eigentlich immer über etwas auf. Er war ein sehr aufbrausender Mensch. Und doch ein guter Anführer, da er immer das Beste für seine Freunde wollte. Seine Freundin war wirklich das Gegenteil von ihm. Redselig. Immer gut gelaunt. „Er hat eine Lücke im Schutzwall entdeckt und wollte das seinem Vater melden. Keine Angst, ihm wird schon nichts passieren."

Die Frau nickte. Nicht überzeugt. Sie entspannte sich erst, als auch Matthis signalisierte, dass alles in Ordnung war. Matthis  war der beste Freund ihres Sohnes. Er würde schon wissen, wie es ihm geht.
Doch die Sorgen verschwanden nicht. Ihr Sohn war jetzt da draussen.

Um sich selbst abzulenken, half sie den Jugendlichen, die Tore zu schliessen und setzte sich dann ans Feuer.
Anna, ein Mädchen aus der Truppe, machte dann die Halle auf sie aufmerksam. Sie hatte eine gute Beobachtungsgabe und gemerkt, dass es der Frau nicht aus dem Kopf gehen wollte, dass ihr Sohn da draussen war. Sie sah Anna an. Diese nickte ihr nur zu und deutete auf ihr Buch. Anna, die Leseratte des Dorfes. Dann ging ihr ein Licht auf. Das Buch. Bücher enthielten Geschichten. Sie war die Geschichtenerzählerin des Dorfes. Klar! Anna wollte, dass sie erzählte, warum sie alle hier in der Halle waren. Viele kannten die Geschichte noch gar nicht. Warum nicht? Sie konnte etwas Ablenkung gebrauchen.

Nach und nach versammelten sich alle Personen ums Feuer. Es war ein schöner Anblick. Die Alten hatten es sich auf den provisorischen Betten gemütlich gemacht und die Jugendlichen passten auf die Kinder auf. Verschiedene Pärchen, wie Matthis und Cecilia, kuschelten sich aneinander und tauschten Zärtlichkeiten aus. Andere zogen sich zurück. Von aussen schien es, als wollten sie sich nicht daran beteiligen, doch sie lauschten. Jeder lauschte.

Sie stampfte auf und signalisierte damit. Sie war die Geschichtenerzählerin. Sie hatte das Wort.
Die Frau räusperte sich. Das Feuer tanzte auf den Wänden und erhellte die Gesichter. Jetzt war sie an der Reihe.
„Kennt ihr die Geschichte?" Ihre Stimme erfüllte die gesamte Halle. „Die Geschichte unserer Dörfer?" Sie fragte ein kleines Mädchen, das kicherte und sich hinter ihrem grossen Bruder Felix versteckte. Er übernahm das Sprechen für sie. Er würde einmal ein guter Vater werden. Mit Sicherheit. „Wir wissen es nicht."

„Nicht? Was für eine Schande." Sie lachte und zwinkerte dem Mädchen zu, dessen grosse blauen Augen sie aufgeregt musterten. „Komm her. Komm näher ans Feuer. Ich erzähle sie dir."

Seelen des Schnees / Adventskalender 2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt