Die Erkenntnis liess ein wenig auf sich warten, doch dann fiel sie ihm wie Schuppen von den Augen.
„Das letzte Mal von vor 30 Jahren. Das warst du. Du bist der Daniel, welcher damals verschwand."
Bei der Zahl 30, weiteten sich dessen Augen geschockt und er atmete scharf ein. Manuel bemerkte nicht, wie Daniel anfing zu zittern und ihm fast die Flöte aus der Hand gefallen wäre.
Wenn Manu sich geachtet hätte, wäre ihm aufgefallen, wie verstört sein Gegenüber von diesen Worten war.Doch Manuel war zu aufgeregt. Seine Gedanken waren bei seinem Vater. Wenn Daniel noch lebte, musste sein Vater sich nicht die Schuld geben, für den Tod seines besten Freundes. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er ging hunderte verschiedene Versionen durch, wie er Daniel zu seinem Vater, oder seinen Vater zu Daniel brachte und malte sich ein tränenreiches Wiedersehen aus.
„Ich kenne dich, Daniel. Mein Vater hat oft von dir erzählt. Weisst du, er gibt sich die Schuld für dein Verschwinden." Manuel wollte weiterreden und Daniel vom Leben im Dorf erzählen. Von seinem Vater und dessen Freunden. Was sie machten, wie sie lebten. Ob sie Familien gegründet hatten. Doch Daniel unterbrach ihn.Bis jetzt hatte er ihn nur ruhig gemustert. Er zitterte weiterhin, aber nicht mehr so stark. „Ja, ich habe es schon gesehen, als wir dich hierhergebracht haben. Du siehst deinen Eltern sehr ähnlich. Die grünen Augen deiner Mutter und die braunen Haare deines Vaters. Dein Gesicht, deine Statur. Alles erinnerte mich sofort an sie. Es war ein Schock dich zu sehen. Ich wusste, dass sicher einige Zeit vergangen war, aber als ich dich dann erkannt habe, wurde mir klar, dass ich mehr als nur ein Jahr weg war. Mir ist es immer vorgekommen, wie etwa zwei Jahre, nicht mehr."
Daniels Stimme wurde immer verzweifelter. Manu konnte in seinen Augen, die Trauer sehen und er fühlte sich hilflos. Was konnte er bloss tun?Daniel keuchte kurz auf.
Manuel erschrak. Seine Gesichtszüge verschwammen für einen kurzen Augenblick einfach so. Der ganze Körper wurde durchsichtig. Daniel bemerkte seinen geschockten Blick und sah an sich herunter. Er schüttelte den Kopf und sah hochkonzentriert aus. Dann wurde er wieder „Er".Manuel vermutete, dass es etwas mit der Konzentration zu tun hatte. Wenn Daniel sich nicht auf eine Gestalt konzentrierte, verschwamm er einfach und hatte keine feste Gestalt.
Ein kurzer Moment peinlicher Stille entstand. Dann fuhr Daniel fort:
„Und jetzt sitzt du da neben mir, bist vermutlich auch älter als ich und der Sohn meines besten Freundes. Weisst du wie schmerzhaft das ist? Paddy hatte es einfach. Er kennt ja niemanden mehr. Aber dein Anblick schmerzt mich gerade so sehr. So sehr, das kannst du dir nicht vorstellen! Meine Mutter ist sicher Tod, mein kleiner Bruder erwachsen, meine Freunde verheiratet und sie haben Kinder. Und dann komme ich. Hier, abseits der Zeit, dort wo man nicht altert. Mein Körper ist zwölf, doch wenn das stimmt, was du sagst. Wenn ich wirklich vor 30 Jahren verschwand, bin ich geistig 42. Ich will nicht 42 sein, Manuel. Ich will auch nicht nicht altern. Mein Wunsch ist es, zu leben. Doch ich stecke fest, als Geisterwesen in der falschen Zeit!"Der letzte Teil war eine Mischung aus Schluchzen und Schreien. Gepeinigt und gequält.
Daniel sah Manu an. In seinen Augen schimmerten Tränen und er versuchte ohne grossen Erfolg, seinen Schmerz zu verstecken.
Manuel wollte antworten, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Vorher konnte er noch so viel sagen, aber jetzt war sein Kopf wie leergefegt.
Also stand er auf um zu Daniel zu gehen und wollte er ihn umarmen, wurde dann aber von Patrick zurückgezogen.Manuel quietsche erschrocken auf. Er hatte bei Daniels Rede nicht mitbekommen, dass Patrick wieder „da" war.
Eben dieser ging an ihm vorbei und umarmte jetzt an Manuels Stelle Daniel und spendete diesem Trost.Es war ein seltsames Bild. Patrick war trotz seines Alters kleiner als Daniel und so musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um den grösseren richtig doll zu drücken. Daniel störte das nicht. Er gab nur immer wieder Schluchzer von sich und legte den Kopf auf Patricks Schulter ab.
Manuel stand verloren daneben. Er kannte keinen von beiden so richtig und deshalb war ihm dieser intime Moment ziemlich unangenehm.
Insgesamt realisierte er erst jetzt, was in den letzten paar Stunden passiert war.
Das wurde dann auch ihm zu viel. Jetzt musste er sich zuerst einmal wieder hinsetzten.

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Seelen des Schnees / Adventskalender 2018
FanfictionIn Manuels Dorf gibt es eine Legende. Alle zehn Jahre wird in der Woche vor Weihnachten ein ungezogener Junge von einer Hexe, die auf dem Berg lebt, entführt. Die Jungen werden nie wieder Gesehen. Das ganze Dorf lebt in Angst und Schrecken. Einzig u...