Abschied

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Auf Zehenspitzen schlich er zu seinem Zimmer. Hoffentlich wurde niemand wach. Er durfte jetzt niemanden aufwecken. Er schaffte es an diesem Tag zum ersten Mal nicht auf die knarzenden Dielen zu treten.
Dort angekommen, kramte er unter seinem Bett nach einem Beutel. Zuerst bekam er nur Holzspäne zu fassen, was ein wenig eklig war, doch dann ertastete er den ledernen Beutel. Manu zog ihn unter dem Bett hervor. Er spürte, dass der Beutel noch gefüllt war. Er sah hinein und verwundert betrachtete er den Inhalt. Warum war der Beutel schon gepackt? Diese Idee hatte er doch spontan gehabt.
Er prüfte den Inhalt.

   - Mehrere Hosen
   - Zwei Wollpullover
   - Ein Mantel
   - Proviant
   - Ein Wasserschlauch
   - Socken
   - Sein Schnitzmesser
   - Die Flöte

Alles war da. Alles was er jetzt packen wollte. Warum? Warum jetzt? Warum war schon alles gepackt? Doch in diesem Moment konnte er nicht darüber nachdenken. Alles schien verschwommen. Er wusste nur, er musste auf diesen Berg. Er musste allen beweisen, dass sie nur an ein Märchen glaubten. Denn sonst würden sie ihre Zukunft zerstören. Wenn so etwas wichtiges von Angst beherrscht wurde, dann wird es nicht stoppen. sie waren so festgefahren in diesen Glauben, dass sie nicht sahen, wie schön das Leben sein konnte. Er war damit aufgewachsen, das alles nur schlecht war, denn es könnte sein, dass die Hexe ihn holte.

Jedes Jahr an Weihnachten weinte sein Vater. An einem Tag hatte Manuel ihn gefragt, warum er weinte. Sein Vater hatte ihm daraufhin von Daniel erzählt. Er weinte, weil er sich die Schuld für sein Verschwinden gab. Hätte er ihn zurückgehalten, hätte er überlebt. Sein Vater hatte ihn dann mit verweinten Augen angesehen. „Er hätte überlebt, oder? Hätte er überlebt, Mau?" Sein Vater hatte ihn schon lange nicht mehr so genannt. An diesem Tag das letzte Mal.

Auch seine Mutter weinte an diesen Tagen. In anderen Dörfern konnte man das Leben richtig spüren. Deshalb war Manu so gerne dort. Er wollte leben. Hier überlebte man. Das Jahr selber war schön, doch kaum ging es zu neige, verblasste das Leben und ein grauer Schleier senkte sich über die Häuser.

Manuel wollte endlich wieder Weihnachten feiern. Er wollte, dass seine Eltern nicht weinen mussten und er nicht in Angst leben.
Er tat es für sie. Das redete er sich ein, als er das Haus verliess. Mit einem Schal vermummte er sein Gesicht. Ein gezeichnetes Bild seiner Familie in der Tasche. Darauf wirkten Miras graue Augen noch lebendig und Yan hatte keine Zornesfalten. Sein Vater wirkte um Jahre jünger und seine Mutter nicht so ausgelaugt. Liam und Christian waren von Kopf bis Fuss dreckig, doch sie strahlten.

Das Bild war vor zwei Jahren entstanden.

Natürlich kamen Tränen.
Der Gedanke, seine Familie jetzt zu verlassen, war verrückt. Vollkommener Wahnsinn. Richtig.

Die Tränen waren heiss und unangenehm auf der Haut. Sie sogen sich in den Schal hinein. Er schluchzte. Fuhr sich über das Gesicht und
wischte die Tränen weg. Nass. Er war erst dreizehn. Er wollte nicht gehen.
Aber wer tat es dann?
Wer konnte noch helfen?
Er blickte noch einmal auf das Haus.
Er musste auf den Berg. Musste beweisen, dass sie alle vor Nichts Angst hatten. Er musste das Leben zurückbringen!
Dieses Dorf war ein Geist. Zeit es zurück ins Leben zu holen.
Er wünschte, man könnte sagen, dass er nicht zurückgeblickt hat. Doch das wäre gelogen. Und seine Mutter sagte immer, er solle nicht lügen.

Die Tränen fühlten sich heiss an. Auf seiner Haut.
„Ich liebe euch!"

Seelen des Schnees / Adventskalender 2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt