„Patrick!", hörte ich unseren Lehrer schreien. Zeit für mich abzuhauen. Ich nahm meine Beine in die Hand und flüchtete vor seinem Geschrei. Ich konnte sein Handeln nicht nachvollziehen. Ich war ja nicht dafür verantwortlich, dass plötzlich sein gesamter Schreibtisch, und auch seine gesamten Unterlagen im Schweinestall meines Grossonkels gelandet waren. Das war bloss...
Ein Versehen.
Ich rannte und rannte. Wenn der mich erwischte, war ich Tod. Aber so richtig! Nicht wie in solchen Geschichten, in denen eine Person zuerst stirbt und dann plötzlich auf wundersame Weise wieder lebt.
Ein paar der Leute schrien erschrocken auf, als ich an ihnen vorbeirannte. Quer über den Marktplatz. Vorbei am Marktstand des Bäckers. Ich hatte Hunger.Ich sah mich einmal kurz um und konnte sehen, dass diese Klette von Lehrer noch immer hinter mir war. Gott! Wurde ich den gar nicht mehr los?
Ich bog um eine Ecke und gelangte zum Waldrand.
Da ich mir nicht sicher war, wo ich mich verstecken sollte, rannte ich ein Stück in den Wald hinein und erklomm dann eine Tanne.
Von dort aus beobachtete ich, wie unser Lehrer unter mir im Wald herumrannte und dabei ohne es zu bemerken meine Spuren im Schnee verwischte.
Er sah wirklich aufgebracht aus. Sein Kopf war hochrot und die Augen schienen fast aus seinem mausartigen Gesicht herauszuploppen. Das strähnige Haar flatterte wild auf seinem Kopf herum und er schnaufte wild.
Ich sass hier oben und lachte mir ins Fäustchen. So ein Idiot. Da hatte er doch tatsächlich geglaubt, ein spontan angesagter Gottesdienst, der das ganze Wochenende dauern würde, würde uns gefallen. Es war Weihnachten! Wir hatten dann frei!Also hatte ich mit zwei Freunden einen Plan geschmiedet. Es war klar, dass es auf meine Mütze ging. Ich ärgerte ihn schliesslich nun schon seit Jahren. Aber wenn er zu doof war um mich auf frischer Tat zu ertappen, war es sein Problem.
Da es ein wenig dauern würde, bis ich hier runterkam, beobachtete ich das Dorf. Ich hatte nicht die beste Aussicht. Ich war ja nicht auf einen Baum, direkt am Waldrand geklettert. Trotzdem konnte ich das Geschehen auf dem Marktplatz mitverfolgen.
Unser Lehrer, und auch Priester, war wieder zum Marktplatz zurückgekehrt und fragte nun jeden, ob er mich gesehen hatte.
Es war ziemlich lustig zu sehen, wie er immer mehr verzweifelte. Vom Fischer wusste ich, er würde zu mir halten und die Alte mit ihren dämlichen Blumen verstand kein Wort. Bei ihr verbrauchte er ziemlich viel Zeit einfach nur, weil er die Situation erklären wollte. Ich lachte schadenfroh auf und lehnte mich an den Stamm.Hier hatte ich das sagen! Nicht der Bürgermeister, nicht die Kirche. Ich!
Ich holte eine kleine Flöte aus meiner Tasche.
Es war ein Erbstück meiner Mutter. Ich hatte nie die Möglichkeit gehabt sie kennenzulernen. Meine Geburt hatte sie umgebracht. In die Flöte waren Zeichen geschnitzt. Ich wusste nicht, was sie bedeuteten. Für mich sah es bloss schön aus. Mit meinen Fingern fuhr ich die Zeichen nach. Es hatte etwas Beruhigendes.
Ich konnte nur ein Stück. Aber spielen durfte ich es nicht. Mein Vater fing dann immer an zu weinen und ich fühlte mich immer peinlich berührt, wenn dieser Hüne von einem Mann in Tränen ausbrach.
Er sagte immer, ich käme nach meiner Mutter und es stimmte sogar. Ich war nicht einmal ansatzweise so gross wie er. Von den Jungen in meinem Dorf, war ich der Kleinste. Und ich war 16. Bald 17. Die dunkelbraunen Haare, die braunen Augen, all das hatte ich von ihr. Wer nicht wusste, dass ich der Sohn des Schmiedes war, schaute ganz schön dumm aus der Wäsche. Keiner vermutete, dass ich zu diesem blonden, blauäugigen Riesen gehörte. Das nervte!Ich blieb noch eine Weile auf dem Baum. Hier war es so schön ruhig. Und ich musste nicht die ganze Zeit mit jemandem reden.
Ich zupfte an meinem Lederarmband herum. Ich musste es tragen. Es wies mich als „nicht ganz klar im Kopf" aus. Der Priester hatte gesagt, es läge daran, dass ich ohne Mutter aufwachsen musste.
Und da wunderte der sich, warum er immer das Opfer meiner Streiche war.
Mit meinem Kopf war alles in Ordnung, vielen Dank!
Ich hatte einfach keine Lust, zu zeigen, dass ich den Kram in der Schule schon längst konnte.
Und irgendwann wurde aus meiner Arbeitsverweigerung dann ein „Geistig nicht ganz klar".
Als es anfing zu dämmern, kletterte ich von der Tanne runter und lief durch das Dorf nach Hause. Ich nahm einen Umweg, damit ich unserem Lehrer noch einen Besuch abstatten konnte.Dieser war gerade dabei zu Abend zu essen. Als er mich sah, funkelten seine Augen gefährlich. Er entfernte sich vom Tisch und kam zur Türe. Ich stand da und scharrte mit meinen Füssen im Schnee.
Mit seinen kleinen Schweineaugen fixierte er mich. „Na, Pat. Das war mal wieder eine wunderschöne Aktion." Die Worte waren nur geflüstert, aber ihr Klang stellte meine Nackenhaare auf.
Im nächsten Moment wurde ich gegen die Wand gepresst und schon brannte meine Backe.
„Bist wohl doch nicht so strohdumm, Kleiner. Leider kann ich dir nichts nachweisen. Aber mach dich jetzt auf Montagnachmittag gefasst. Ich freue mich schon."
Dann liess er mich los und verschwand in seiner Hütte. Ich sank vor der Türe zusammen. Ich hasste die Montagnachmittage. Ich hasste sie.Ich schluchzte auf. Dann sammelte ich mich und erhob mich. Aus Erfahrung war mir klar, dass man nichts erkennen würde.
Der Weg war nun nicht mehr weit. Ich schlenderte zu unserem Haus und beobachtete die Familien durchs Fenster. Obwohl Weihnachten erst in ein paar Tagen war, sahen die Häuser von innen schon sehr festlich aus. Ich liebte Weihnachten. Mein Vater auch. Weihnachten war die beste Zeit des Jahres! Wir backten dann immer zusammen Kekse und ich konnte sie auf dem Marktplatz verkaufen. Bei unseren Schneeballschlachten machte immer das halbe Dorf mit. Und danach musste die Verliererseite den Gewinnern in der Bar etwas spendieren. Es wurde gelacht und Geschichten ausgetauscht.
Ich öffnete die Türe und wollte meinen Vater gerade freudig begrüssen, als mir die Worte im Hals steckenblieben.
Er war nicht allein.
Seine Worte liessen mich Böses ahnen. Was hatte ich jetzt schon wieder angestellt?
„Patrick, wir müssen reden!"
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Seelen des Schnees / Adventskalender 2018
Hayran KurguIn Manuels Dorf gibt es eine Legende. Alle zehn Jahre wird in der Woche vor Weihnachten ein ungezogener Junge von einer Hexe, die auf dem Berg lebt, entführt. Die Jungen werden nie wieder Gesehen. Das ganze Dorf lebt in Angst und Schrecken. Einzig u...