Märchenstunde

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„Es war einmal vor langer langer Zeit, da lebte ein Junge mit Augen, so braun wie das Fell eines Rehs, hier in diesem Dorf. Er hörte auf den Namen Patrick. Er war ein ungezogener Bengel. Ein absolutes Scheusal. Hatte keine Manieren. War geistig zurückgeblieben. Dem Lehrer spielte er immer Streiche und er bereitete seinem Vater nur Kummer.

Sein Lieblingsziel war der Pfarrer des Dorfes. Er war zugleich auch der Lehrer der Schule und ein gütiger Mann. Selbst als alle Patrick aufgegeben hatten, glaubte er an den Jungen. Patrick dankte ihm mit Streichen. Machte dem Pfarrer das Leben zur Hölle.

Seine Mutter war bei der Geburt des Jungen ums Leben gekommen und so musste der trauernde Vater Patrick alleine aufziehen. Leider wirkte sich das Fehlen der Mutter negativ auf Patricks Erziehung aus. Weil er seine Frau so geliebt hatte, rührte der Vater 16 Jahre lang keine Frau mehr an. Als der Junge aber langsam ins Mannesalter kam, beschloss der Vater, neu zu Heiraten. Er hatte sich nach all den einsamen Jahren wieder verliebt.
Seine Auserkorene war die Holzfällerin des Dorfes.

Patrick gefiel das nicht. Trotz seiner Torheit liebte er seinen Vater und war nicht bereit, ihn zu teilen. Er wurde unglaublich eifersüchtig und konnte diese arme Dame nicht ausstehen. Überlieferungen zufolge, schnitt er ihr einmal die gesamte Haarpracht ab und warf ihre Äxte in den Fluss, der noch immer durch den Wald fliesst. Es dauerte Wochen um neue Äxte anzufertigen.
Wenn ihr Glück habt, findet sie vielleicht jemand von euch.

Dass sein Vater sich verliebt hatte, gefiel noch einer Person nicht. Eine der Jägerinnen fühlte sich zu ihm hingezogen und fühlte sich durch die Zurückweisung zutiefst verletzt. Was der Vater aber nicht wusste, war, dass die Jägerin eine niederträchtige Hexe war.
Sie schmiedete im Geheimen einen Plan, um den Vater für sich zu gewinnen. Am Tag vor der Hochzeit, an Heiligabend, setzte sie ihren Plan in die Tat um.

Patrick kam gerade mit seinem Vater und dessen Verlobten von einem Spaziergang zurück, als ihn plötzlich etwas von hinten packte.
Er wurde wie von Zauberhand nach Hinten gezogen und fühlte etwas kaltes, metallisches an seiner Kehle.

Die Hexe hatte ihn mit ihren Krallen gepackt und hielt ihm einen Dolch an die Kehle. Sie sprach zu seinem Vater: „Wenn du deine Verlobte nicht vor Mitternacht verlassen hast, wirst du deinen Sohn nie wiedersehen!" Patrick sah seinen Vater an. Er suchte in den Augen nach der Bestätigung, dass sein Vater ihn wählen würde. „Vater! Hilfe!" Er legte all seine Verzweiflung in diese Worte. Hoffte darauf, dass sein Vater ihn wählen würde. Doch dieser küsste seine Verlobte und ging. Der Junge hatte ihn all die Jahre so gequält, er hatte es nicht anders verdient.
Patrick wurde zurückgelassen und die Hexe behielt Recht. Er war ab diesem Tage nie wieder gesehen.

Man munkelt, dass sie seine Seele aus seinem Körper gezogen hat um am Körper des Jungen herauszufinden, warum sein Vater ihn zurückgelassen hatte. Gerüchte gehen um, dass er noch lebt, aber auf Ewigkeiten dazu verdammt ist, seinen Körper zu suchen. Dort oben auf dem Berg der schreienden Jungen. Wenn ihr den Berg besteigt, trefft ihr ihn vielleicht. Aber passt auf! Die Suche nach seinem Körper hat ihn verrückt werden lassen. Kommt ihm nicht zu nahe! Er will seinen Körper, aber ihm ist auch ein Körper von euch recht. Er will Leben. Ihr seid sein Futter. Wenn er euch sieht, wird er euch anfallen, eure Seele aus dem Körper reissen und sich an eurem Leid ergötzen. Und keiner von uns wird euch helfen können.

Was wir aber wissen, ist, dass alle zehn Jahre, seit dem Vorfall, ein junger Mann verschwindet. Immer aus einem anderen Dorf, das am Fusse des Berges liegt. Immer ist es ein Taugenichts. Und genau deshalb haben wir uns heute alle hier versammelt. Denn dieses Jahr sind wir wieder an der Reihe."
Die blonde Erzählerin stoppte und lehnte sich zurück. Sie war beunruhigt. Sie hatte eine böse Vorahnung.

Sie sah sich im Raum um. Betrachtete die leuchteten Augen der Kinder, die sich direkt neben sie zur Feuerstelle gesetzt hatten. Das Feuer tauchte den Raum in ein warmes Licht. Sie sah Sebastian und Julia dicht aneinander gekuschelt. Sebastian hatte den Kopf in Julias Brust vergraben und er zitterte vor Angst. Er war auch ziemlich schreckhaft.
„Jetzt kennst du die Geschichte, Marie", rief Felix dazwischen und unterbrach somit ihre Gedanken, „Hat sie dir gefallen?"
Seine kleine Schwester, Marie, nickte aufgeregt. Auch wenn sie an manchen Stellen zusammengezuckt war, liebte sie alle Arten von Geschichten. Wer weiss? Vielleicht übernahm sie einmal ihre Arbeit.

Die Erzählerin wollte gerade etwas sagen, als die Tore der Halle geöffnet wurden und ein Mann hineinstürmte. Die Frau fuhr herum und lächelte freudig, als sie den Mann erkannte. Das war ihr Ehemann, der hereingestürmt kam.
Doch seine Worte zwangen sie in die Knie.
„Sie hat unseren Jungen geholt."

Seelen des Schnees / Adventskalender 2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt