Hilfe

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Am nächsten Tag wollte mein Vater mit uns alles klären. Ich kannte das schon. Jedesmal wenn ich etwas angestellte hatte, gingen wir in den Wald spazieren und redeten. Dann kamen wir zu der Lösung, dass ich unseren Lehrer in Ruhe lassen sollte. Ich hielt das Versprechen ein paar Tage. Mein Rekord waren zwei Wochen. Dann provozierte mich dieser Idiot wieder. Ich spielte ihm einen Streich. Er verfolgte mich. Ich kletterte auf einen Baum. Am Abend wollte ich mich dann entschuldigen. Kam dann mit Verletzungen nach Hause. Meinem Vater fiel es nicht auf und am nächsten Tag waren wir wieder im Wald.

Wir hatten so eine typische Route und ich war deshalb ziemlich überrascht, als er von dieser abwich. „Wo gehen wir hin? Papa! Das ist nicht der normale Weg!"
„Lass deinen Vater in Ruhe! Er weiss schon wo wir hinmüssen."
Pia, die bis jetzt hinter uns gelaufen war, überholte mich und hakte sich bei meinem Vater ein. Ich hatte keine Ahnung, warum sie heute ein Kleid trug. Sie war Holzfällerin von Beruf. Holzfäller arbeiteten im Wald. Warum trug sie ein Kleid? Im Wald!
Ich wurde so von dieser Frage abgelenkt, dass ich aus Versehen über eine Wurzel stolperte und mein Gesicht mit voller Kanne Bekanntschaft mit dem Schnee machte.
Ich rappelte mich wieder auf und klopfte mir den Schnee von der Kleidung. Ich mochte Schnee, einfach bevorzugte ich ihn nicht in meinem Gesicht.

Mein Vater und Pia hatten nicht gewartet, vermutlich hatten sie es auch gar nicht bemerkt, und waren bis zum Fuss des Berges gelaufen. Um den Berg herum zog sich ein Wald und am Waldrand lagen dann die Dörfer. Im Wald war auch ein Fluss und so hatten wir Wasser und Holz an der selben Stelle und das war schon ein glücklicher Zufall.
Ich erreichte den Waldrand und sah die Erwachsenen. Sie standen nebeneinander und ihre Hände waren verschlungen. Es war diese Zweisamkeit, die mir klar machte, dass ich versuchen würde mit ihr auszukommen. Die Szene war nicht wunderschön. Sie war normal. Pias Haare waren zerzaust. Ihr Kleid war schmutzig und nass vom Schnee. Normalität tat mir jetzt gerade gut.

Ich wollte gerade zu ihnen gehen, wurde dann aber zurückgerissen. Ein Quieken entfuhr mir als ich gegen einen Körper gepresst wurde. An meine Kehle wurde ein kalter, scharfer Gegenstand gepresst. Er schnitt mir leicht in das Fleisch.
Ich wimmerte.
Mein Vater, vom Quieken alarmiert, rannte auf mich und diese andere Person zu. „Chiara! Was tust du? Lass meinen Sohn los!"
Die Jägerin! Was war denn in sie gefahren?
Am liebsten würde ich sie nach hinten gegen einen Baum rammen, doch meine Angst, dass sie mir die Kehle aufschlitzen würde, war zu gross.

Ich zitterte am ganzen Körper.
Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen zu reagieren. Ich krallte meine Hand ins Knie. Brauchte Gewissheit, dass ich jetzt wirklich in Lebensgefahr schwebte. Mein Atem ging nur stossweise. Abgehackt.
Wenn ich mit meinen Freunden fangen gespielt hatte, oder wir gejagt worden waren hatte ich immer diese Freude gespürt. Selbst vor den Montagnachmittagen zitterte ich nicht so heftig.
Ich bangte um mein Leben. Denn wenn das Chiara war, hatte ich keine Chance. Sie war eine der besten Jägerinnen. Sie spielte mit ihrer Beute. Und die Beute war ich.

Seelen des Schnees / Adventskalender 2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt