Die Qual der Wahl

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„Bewege dich noch einen Schritt", rief Chiara, „und dein Junge ist Tod!"
Mein Vater stoppte mitten in der Bewegung und auch Pia hielt sich an die Worte.
Wir alle standen einander gegenüber. Keiner hatte den Mut sich zu bewegen.
Chiara wusste, dass mein Vater sie besiegen würde. Er war stark und schnell. Als Schmied konnte er auch mir vielen Waffen umgehen.
Ich war seine Schwäche. Solange Chiara mich in ihrer Mangel hatte, griff mein Vater nicht an. Wenn sie mich verletzte, hatte sie ein Problem.
Einzig und allein Pias Standpunkt war mir nicht klar.
Wenn Chiara mich verwundete, was wäre Pias Reaktion?

Würde sie mir helfen? Oder nicht?

Wir waren in einer Situation, in der nur ein sehr überraschender Schachzug uns raushelfen würde.
Jede Bewegung löste eine andere Situation aus, die mich mit hoher Wahrscheinlichkeit tötete.
„Hilfe."
Meine Stimme war leise, gepresst und sehr hoch. Man konnte meine Qualen hören. Ich zitterte immer mehr.

Chiara machte mir Angst. Die Hilflosigkeit meines Vaters machte mir Angst.
Mein Blick verschwamm und schon liefen die ersten Tränen meine Wangen herunter. Es konnte mir egal sein, dass Weinen bei uns Jungen verpönt war. Hier durfte ich es doch, oder?
Der Lehrer hatte einmal gesagt:

„Das Weib ist dazu bestimmt in der Küche zu stehen und Kinder aufzuziehen. Es ist das schwache Geschlecht. Immerzu gesteuert von seinen Gefühlen.

Der Mann. Der starke Mann muss das schwache Weib beschützen. Ihm sind keine Gefühle erlaubt. Wenn er weint, hat er was vom Weib in sich und das muss so schnell wie möglich ausgemerzt werden!"

Ich hatte seit Jahren nicht mehr so geweint.

Chiara nutzte diesen Moment um mich näher zu ihr zu ziehen und den Dolch mehr an meine Kehle zu drücken. „Ich gebe dir jetzt zwei Möglichkeiten, Schmied. Wähle weise, denn bei beidem verlierst du etwas wichtiges. Nur. Was ist wichtiger?"
War sie nicht in meinen Vater verliebt? Ihre Stimme tönte freudig, nicht wütend. Als würde es ihr Spass machen uns zu quälen.
„Entweder entscheidest du dich für Patrick. Deinen Sohn. Dann musst du die Hochzeit mit Pia absagen und rührst für den Rest deines Lebens keine Frau mehr an. Oder du entscheidest dich für Pia. Deine Liebe. Und wirst Patrick nie wiedersehen!"

Mein Blick suchte den seinen. Panisch wollte ich wissen, wie er sich entscheiden würde. Ich sah in seine Augen und konnte sehen, dass er zweifelte. Ich war sein Sohn verdammt! Er war unentschlossen. Hilf mir, wollte ich schreien, doch ich brachte kein Wort heraus.
Es war wirklich eine verzwickte Situation, doch in meinen Augen war klar, wen er wählen sollte. Doch anscheinend waren wir da nicht einer Meinung.

Nach Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, bemerkte ich eine Veränderung in seinem Blick. Er war nun klarer.

Hoffnungsvoll sah ich ihn an.

Meine Hoffnung wurde zerschlagen, in Stücke gerissen, mit Füssen getreten.

Ich kannte diesen Blick.
Jedesmal wenn ich ihn anflehte, er solle bitte diese Montagnachmittage beenden.

Jedesmal, wenn er meine Wunden übersah.

Jedesmal wenn er mich im Stich liess.

Seine Wahl war gefallen. Und ich war es nicht.

Er griff nach Pias Hand. Ihre Finger wirkten im Gegensatz zu seinen Pranken fast schon zierlich.
Und dann rannten sie weg. Weg von mir. Weg von Chiara.

Ich blieb zurück.

Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken. Dann flüsterte sie mir ins Ohr, fast schon mitleidig: „Interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Ungebildete Idiot das Weibsstück wählt. Es tut mir leid, aber du musst nun mit mir kommen. Ich mag dich. Ich mag dich wirklich."
Endlich entfernte sie den Dolch von meiner Kehle.

Diese Chance wollte ich nutzen. Blitzschnell drehte ich mich um und drückte sie gegen einen Baum.
Chiara hob eine Augenbraue. Sie schien es gelassen zu nehmen. Fast schon gelangweilt sah sie mich an. „Aber andererseits, wer vermisst schon den Idioten?"
Aus Erstaunen liess ich von ihr ab. Wut keimte in mir auf. Ich war kein Idiot! Mit solchen Worten konnte man mich sehr schnell aggressiv machen. Ich war hitzköpfig und sehr emotional, doch ich schlug nie zu. Auch jetzt nicht. Was sich als gravierender Fehler erwies. Denn sie tat es und gepaart mit einem seltsamen Spruch schickte sie mich ins Dunkle.


In dem Moment, noch während ich meine Augen aufschlug, wusste ich in meinem Innern, dass Neujahr schon gewesen war. Der Jahreswechsel war etwas besonderes und ich fühlte mich danach immer so anders. Ausserdem lag immer noch der Geruch von Feuer in der Luft. Das Dorf übertrieb mit dem Neujahrsfeuer jedesmal sehr. Eine alte Tradition.
Ich lag im Schnee, als hätte man mich weggeworfen. Es war Nacht und die Sterne funkelten am Himmel. Ein wunderbares Schauspiel. Ich blieb noch einen Augenblick liegen. Der Himmel zog mich so sehr in seinen Bann, dass ich die Kälte ignorierte, welche sich in meinen Knochen breitmachte. All das hatte etwas Magisches.

Doch dann erinnerte ich mich an Alles:
Chiara. Mein Vater. Pia. Seine Wahl.
Meine Stimmung kippte. Also gut, wenn er Pia wollte, konnte er sie auch haben.

Ich schrie. Ich schrie alles aus mir heraus. Meine Stimme verschwand in der Nacht. „Was interessiert mich dieser Idiot! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn aus tiefstem Herzen!"
Ich fühlte mich im Stich gelassen. Ich war sein Sohn und er warf mich einfach so weg, als würde ich ihm nichts bedeuten.
Meine Schreie wandelten sich langsam in Schluchzer. Was habe ich getan, dass er mich so hasste, dass er mich verstiess. War ich so ein Monster? War ich so abnormal, dass sogar meine Familie Angst vor mir hatte?
Ich sah zu den Sternen auf. Bat sie um eine Antwort. Doch sie blieben stumm. Verspotteten mich.

Ich spielte mit dem Gedanken, einfach liegen zu bleiben. Das Leben hatte gerade allen Wert verloren. Wer würde mich schon vermissen?
Dieser Gedanke veränderte meine gesamte Sichtweite. Ich hatte mich hierher gekämpft, und jetzt wollte ich aufgeben? Weil jemand, der mich offensichtlich nicht achtete, sich von mir abwendete? Nein. Das würde nicht passieren! Ich brauchte ihn nicht. „Ich brauche niemanden!"

Ich beschloss, endlich aufzustehen. Meine Kleider hatten sich mit Schnee vollgesogen und die Kälte drang bis in die Knochen. Zum Glück trug ich Handschuhe.
Als ich mich aufrichtete, rutschte ein Stück Schnee in meine Kleidung. Ich keuchte auf. Kalt? Kalt. Kalt!
Und doch warm? Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass ich doch sicherlich schon tausendmal in der Kälte erfroren wäre. Warum lebte ich noch? Man hatte mich sicher weggeworfen, damit ich jämmerlich verreckte.
Wo war Chiara eigentlich? Ich war auf dem Berg. Doch Ohnmächtig wurde ich am Fusse des Berges. Theoretisch hatte sie mich mitgenommen. Warum, wusste nur sie.
Dann wurde ich auf eine kleine Pergamentrolle aufmerksam. Sie war an meinem rechten Arm befestigt.

Schnell löste ich den Knoten und rollte die Nachricht auf. Es dauerte eine Weile, bis ich die Worte entziffern konnte. Ich war sogar ziemlich gut gebildet, was Lesen, Schreiben und Rechnen anging, doch diese Schrift war seltsam. Sie war sehr kunstvoll und alles war schön geschrieben, doch Rechtschreibfehler störten die ganze Zeit meinen Lesefluss. Irgendetwas stimmte nicht.

Seelen des Schnees / Adventskalender 2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt