Leuchten

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„Alles wieder gut?", fragte seine Schwester. Sie sass am Küchentisch und klopfte auf den Stuhl neben ihr. Sie hatte vermutlich als einzige bemerkt, dass er stocksauer aus dem Haus gestampft war.
Nebenbei ass sie das letzte Brötchen.
Wenn fünf sich streiten, freut sich die sechste.

Sie war die Ruhigste der Familie. Keiner wusste, woher sie das hatte.
„Um was geht es?", fragte er und setzte sich neben sie.
„Um dich." Manu sah auf. „Kannst du das noch ein wenig eingrenzen? Ich möchte wissen, ob ich mich schon im Voraus umbringen muss, oder ob sie das machen."

„Das wirst du nicht tun!" Ihr Vater hatte das Gespräch mitgehört und stand nun mit hochrotem Kopf vor ihnen. Die blauen Augen weit aufgerissen und man konnte Sorge darin erkennen. Er war ein sehr emotionaler Mensch. „Wir wollen dich nicht verlieren. Du gehörst..."
Manuel verdrehte genervt die Augen. „Das war ein Witz!"
Um der Situation zu entkommen, verzog er sich aus der Küche in sein Schlafzimmer. Unfassbar. Warum musste seine Familie so sein?

Ohne sich die Frage zu beantworten, steuerte er schnurstracks auf seinen Nachttisch zu. Er öffnete dessen Schublade und holte ein Schnitzmesser und das dazugehörige Holz hervor. Er musste sich ablenken. Seine schulterlangen, braunen Haare band er zusammen. Sie störten dann immer so. Ständig hatte er Haare vor den Augen, und sah nichts, oder im Mund, oder in seinem Essen.
Aber er wollte sie nicht abschneiden. Es gefiel ihm. Und deshalb blieben die Haare lang.
Es war wohl nicht nötig zu erwähnen, dass es ihm auch einfach besser stand.

Sein Zimmer war nicht besonders gross. Er hatte aber Glück gehabt und musste sein Zimmer nicht teilen. Es war nicht das Grösste, aber dies störte ihn nicht. Schliesslich musste er nicht Yans Geschnarche ertragen. Sein ältester Bruder schnarchte sehr fest und seine Zwillingsschwester, Mira, störte es am wenigsten. Allen anderen fiel immer fast ein Ohr ab. Manu hatte das Zimmer neben ihnen und bangte manchmal um das Hausdach, wenn es mal wieder besonders schlimm war. Beide wollten bald ausziehen. Dann blieb er mit seinen Eltern, Liam und Christian im Haus. Und auch die zogen bald aus. Manu war erst 13 Jahre alt, und deshalb musste er noch warten, bis er Zwanzig war. Und eine Familie hatte.

Er setzte sich hin und begann das Holz mit dem Messer zu bearbeiten. Mal schauen was dabei herauskam.
Während er schnitzte, vergass er alles um sich herum. So war es auch, wenn er zeichnete. Seine Eltern hatten schon oft gesagt, dass er nicht einmal hören würde, wenn das Haus zusammenbrechen würde.
Er blendete alles aus und konzentrierte sich nur auf das Stück Holz in seiner Hand. Manchmal musste man ihn aus seinem Zimmer ziehen, weil er sein Werk noch nicht beendet hatte und deshalb nicht zum Essen gekommen war.
Figuren, die nicht so herausgekommen waren, wie er es in seinem Kopf gesehen hatte, kamen in einen Laden und wurden verkauft. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sie verbrannt.

Aber es ging nie nach ihm.

Manuel schnitzte einfach eine Weile vor sich hin. Das hier sollte nichts Besonderes werden. Es sollte ihn bloss ablenken.
So in seine Arbeit vertieft, merkte er nicht, dass das Dorf noch ruhiger wurde als eh schon. Alle Eltern und hatten ihre Häuser verriegelt und warteten in ihnen die Nacht ab. So ging das dann bis Weihnachten.
Das ganze Dorf legte sich schlafen. Man hörte bloss noch vereinzelt Tiere. Ein Wolf der in der Ferne heulte. Hunde die ihm antworteten. Das Muhen von Kühen und das blöken von Schafen. Der Wind heulte im Wald. Doch Manu störte das nicht.
Er schnitzte weiter, denn solange er noch sehen konnte, was vor ihm war, hatte er kein Problem mit der Nacht.

Er stoppte erst, als er das Holz nicht mehr vor Augen erkennen konnte.
Mit seinem Fuss tastete er nach einer Kerze. Das plötzliche Licht schmerzte für einen kurzen Moment in seinen Augen.

Er betrachtete das Stück Holz. Der Junge hatte keine Ahnung, was er jetzt genau geschnitzt hatte. Das passierte nun schon das zweite Mal. Es war ein junger Mann.
Er hatte zwei Narben auf der Wange und lachte.
Manuel schüttelte den Kopf und stellte die Holzfigur neben einen weiteren Jungen. Er war zu müde um zu bemerken, dass der eine Junge perfekt in die Arme der anderen Figur passte.
Manu wischte kurz die Späne zusammen und warf sie aus dem Fenster.

Dann legte er sich schlafen.

Wäre jemand an seinem Zimmer vorbeigekommen, hätte er ein blaues Leuchten bemerkt, dass von den beiden Holzfiguren ausging.

Seelen des Schnees / Adventskalender 2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt