Der graue Ring #22

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„Nachdem wir unseren... kleinen Zwischenfall hatten." Er stockt kurz. „Warst du wahrscheinlich ziemlich wütend. Jedenfalls... du hast mich durch deinen Gefühlsausbruch unwissentlich paralysiert und ich konnte mich nicht mehr bewegen."
Er stockt erneut, seine Stimme zittert.
„Ich stand dort, unfähig etwas zu machen, aber ich sah und spürte alles um mich herum. Ich stand dort, sah die Tage vorbeiziehen, dachte bereits das ich sterbe, als mich Casey gefunden und mich ins Krankenhaus gebracht hatte. Dann erinnere ich mich an nichts mehr, bis du neben mir am Bett standest." Er schaut zu Boden, seine Worte geben mir einen Stich ins Herz.
Ich bin schuld, dass es ihm so schlecht geht.
„Es... es tut mir so leid." Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine Schulter. Er zuckt zusammen, unternimmt jedoch keinen Versuch, meine Hand wegzuschieben.
„Du konntest nichts dafür. Es waren deine Kräfte." Er lächelt und ich spüre seine Hand auf meiner. Doch mir ist nicht nach lächeln zumute.
„Das werde ich mir nie verzeihen." Gestehe ich leise. „Wenn ich mir vorstelle, was passiert wäre, wenn Ray nicht rechtzeitig gekommen ist."
„Es ist nun mal passiert, daran lässt sich nichts ändern, aber es ist doch alles gut gekommen." Aries streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken.
Ich seufze. „Ja, zum Glück ist alles gut gekommen."

„Und morgen werde ich entlassen." Er grinst glücklich.
„Wirklich? Das ist toll! Dann wirst du bald wieder unterrichten können?" Er lacht. „Es freut mich, dass du meinen Unterricht so magst, aber ich werde noch ein bis zwei Wochen zuhause bleiben."
„Aber danach..." „Ja, danach werde ich wieder arbeiten."
„Dann freue ich mich, bald wieder dich als Lehrer zu haben." Mein rasch klopfendes Herz macht es mir nicht einfach, nicht vor Freude zu hüpfen. Die angenehme Stille zwischen uns will ich nicht zerstören.

Aries mustert mich nachdenklich. „Freust du dich, weil dir der Unterricht gefällt, oder weil du michdann siehst?"
Meine Wangen werden heiß und ertappt stehe ich auf.
Ich schaue weg.

Er weiß doch, was ich für ihn empfinde. Schließlich habe ich ihn geküsst. Aber er hat mich sofort weggestoßen.
Meine Augen beginnen zu brennen und unauffällig wische ich mir darüber. Hinter mir raschelt etwas.
„Weinst du?" Ich schüttle energisch mit dem Kopf, hebe meinen Kopf.

„Ich sollte gehen."

„Du bist doch gerade erst gekommen."

„Es ist alles gesagt." Erwidere ich und verschränke meine Arme. Ein warmer Atem streift meinen Nacken und ein kalter Schauer läuft meinen Rücken hinab. Viel zu schnell drehe ich mich um und bin ihmplötzlich ganz nah.
„Bitte weine nicht." Seine Worte sind nicht mehr als ein Hauch in der Luft.
Langsam nicke ich, gefangen in seiner Aura.
„Wenn du gehen möchtest, halte ich dich nicht auf." Er tritt ein paar Schritte rückwärts und sofort umfasst mich wieder Kälte.

Ich wollte gehen.

Ich werde!

Meine Gedanken fühle sich vernebelt an.
Ich blinzle.
Aries läuft zum Fenster und schiebt es weiter auf. Will er denn das ich gehe?
„Ich... ich muss noch Aufgaben erledigen." Stottere ich, taumle auf das Fenster und hieve mich auf den Fensterrahmen.
„Bis bald Alva." Meinen Namen betont er extra und sorg dafür, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. „Bis bald Alva." Wiederhole ich mit rauer Stimme seine Worte.
Aries grinst.

Habe ich das ausgesprochen!

Erschrocken kippe ich nun wirklich nach vorne, doch starke Arme halten mich zurück.
„Vergiss deine Flügel nicht." Ich kann nur noch nicken, lasse sie erscheinen und springe so schnell und weit wie möglich.
Mit zitternden Schwingen entferne ich mich von ihm. Der kalte Abendwind kühlt mein Gesicht nicht im Geringsten und ich schlage mir die Hände vor die Augen. Wie dämlich kann man sein?

„Danke, dass du so schnell kommen konntest." Ich lasse mich gegenüber von Ray nieder. „Ich möchte etwas Wichtiges mit dir besprechen. Wir warten noch rasch auf Gray, dann erkläre ich dir mehr."
Aries kommt auch?
Er wird heute entlassen, hat es womöglich etwas damit zu tun?
Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her. Als mich Rays Nachricht heute Morgen erreichte und sie mich zum Horizontgebäude bestellte, hatte ich sofort Vorstellungen, dass sie das mit meinen heimlichen Besuchen herausgefunden hat.

Endlich geht die Türe auf und Aries kommt herein.
Er sieht besser aus, doch noch immer zieren dunkle Augenringe sein eingefallenes Gesicht.
Er nickt mir zu und setzt sich neben Ray.
Faltet seine Hände auf dem Tisch zusammen.
Ray nimmt ein schmales Kästchen hervor und schiebt es mir hin. „Aufmachen."
Vorsichtig öffne ich den Deckel. Auf einer weißen Stoffschicht liegt ein schlichter, schmaler Ring. Kaum ein paar Millimeter hoch und breit.

Ich nehme den matt glänzenden Ring heraus. Fragend schaue ich zu Ray.

„In den Ferien hast du mich benachrichtigt, als du diesen... Stein zum Schweben gebracht hast. Ich weiß nicht ob du dir das selbst zusammenreimen konntest, als du mich bei Grays Haus gesehen hast, aber Gray war nicht einfach nur krank."
Sie schaut kurz zu Aries, welcher starr auf seine Hände schaut.
„Ich habe die ersten Tage in den Ferien nichts von ihm gehört und mir bereits Sorgen gemacht. Du warst die letzte, welche ihm gesehen hat und als du mir das mit dem Stein erzähltest, da wurde es mir sofort klar."
Sie deutet zu dem Ring in meiner Hand.
„Du hast Aries ausversehen paralysiert, so wie du den Stein paralysiert hast. Ich konnte ihm rechtzeitig ins Krankenhaus bringen und sie konnten ihn aus seiner Starre befreien."

Obwohl ich das meiste bereits wusste, schaue ich mit großen Augen zu Aries. Dieser weicht meinem Blick aus.
„Scheinbar haben sich deine Kräfte früher als erwartet entfaltet," fährt Ray fort. „Normalerweise trainieren wir mit denen erst im zweiten Jahr, aber ich nehme an, dass es bei dir wegen deiner Herkunft etwas anderes ist. Unerwartete Gefühlsausbrüche können dies oft verursachen. Und da deine Kraft nicht so harmlos ist, habe ich mir etwas ausgedacht."
Sie nimmt mir den Ring aus der Hand.

„Dieser Ring weist kleine Bestandteile von speziellem Gestein auf, welches wir auch bei den Handschellen verwenden. Es neutralisiert deine Kräfte, ohne dich jedoch müde zu machen. Solange du den Ring anhast, wird es nicht zur ungewollten Kräfteausübung kommen."
Sie gibt mir den grauen Ring zurück. Probehalber streife ich ihn mir auf den Zeigefinger.
Das glatte Metall kribbelt auf der Haut, aber ansonsten fühle ich mich nicht anders.

„Ich möchte, dass du diesen Ring bis zu Beginn des zweiten Jahres trägst. Und zwar immer. Wenn ich sehe, dass du dies nicht tust, wirst du bestraft."
Ihre Stimme klingt ernst.
Sofort nicke ich. „Ja, natürlich." Jetzt schaut auch Aries auf.
„Ich hoffe du verstehst, wie wichtig das ist. Es ist gefährlich deine Kraft zu haben, besonders unkontrolliert." Seine Stimme klingt tiefer als sonst, aber ebenso ernst wie Rays.
„Zudem solltest du das für dich behalten. Nur ich, Aries und eine Handvoll Lehrer wissen davon. Und das soll so bleiben. Da es zudem dein erster Kräfteausbruch ist, können wir es vor der Presse geheim halten." Aries Blick schnellt zu Ray.
Er öffnet den Mund, schließt ihn jedoch gleich wieder.

Was wollte er sagen?

„Wenn es nichts weiter von deiner Seite gibt, kannst du wieder gehen."
Sofort stehe ich auf, verneige mich kurz und lächle Aries zu. Ich bin froh, dass es ihm wieder gut geht. Und dass ich meine Kräfte tatsächlich bereits habe, macht mich stolz.
Ich bin doch etwas Besonderes!

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