Fragen über Fragen #35

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Ich lasse mich von Casey mitziehen. Im Wohnzimmer sind drei weitere Wächter versammelt, welche mich alle mit ausdruckslosen Augen mustern.
„Alva, was ist los?" Lex wird von einem der Wächter zurückgehalten.

Aus dem Bad tritt eine verwunderte Sharon, ihre Hände halten mitten in der Bewegung inne. Das lose Ende eines Verbands baumelt von ihren Armen. Ich schüttle stumm den Kopf.
Mit Casey als Anführerin werde ich in das Haus des Seraphs eskortiert. Eine weitere Gruppe von Wächtern nimmt mich in Empfang, Casey wechselt einige Worte mit einem Mann und geht, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ich fühle mich ganz ruhig. Mit fast selbstsicheren Schritten laufe ich, eingeklemmt zwischen den Bewachern, den Gang herunter. Ein leises Surren in meinem Hinterkopf macht sich bemerkbar, jedes Mal, wenn ich doch beginne, nervös zu werden. Sofort beruhige ich mich wieder.
Erst in als ich in einem kleinen Raum Platz nehme, verschwindet das Surren und Panik befällt mich.
Werden sie mich einsperren? Ich habe doch gar nichts gemacht. Klar, vor einem Jahr, das war ich. Aber der Rest... Das zweite Mal war ich auch, aber da war ich nicht mich selbst. Beim dritten Angriff war ich gar nicht in der Menschenwelt. Ich weiß nicht mal ganz genau, wann der Angriff stattgefunden hat. Ich atme ein und aus. Doch mein Herzschlag wird keinesfalls langsamer.

Eine Türe knallt und ich fahre erschrocken herum. Casey betritt den Raum und setzt sich mir gegenüber hin. Was jetzt wohl passiert? Die junge Frau legt eine Mappe sorgfältig vor sich hin und blättert darin. Abwartend beobachte ich sie dabei, aber sie ist wie fixiert auf die Buchstaben vor ihr.
Nervös will ich meinen Ring drehen, aber ich treffe auf weiche Haut. Noch habe ich mich nicht daran gewöhnt, ihn nicht mehr zu tragen. Ich öffne den Mund, schließe ihn jedoch gleich wieder. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.
Die Türe öffnet sich erneut und ein Mann tritt herein. Er ist mittleren Alters mit platinblonden, kurzen Haaren und stechend weißen Augen. Er bringt einen zweiten Stuhl hinein und stellt ihn neben Casey.

„Hallo Alva. Ich bin Seraph Amyntir. Wir sind uns schon einmal begegnet." Erstaunt mustere ich ihn. Er sieht überhaupt nicht aus, wie ich ihn in Erinnerung gehabt habe. Casey schaut endlich von ihrer Mappe auf.
„Sie sehen anders aus." Flüstere ich. Er betrachtet mich lange. Plötzlich beginnen seine Haare sich zu verlängern und werden dunkler. Seine Augen nehmen einen grünlichen Ton an und seine Nase wir schmaler. Er lächelt. „Jetzt solltest du mich wiedererkennen."
Langsam nicke ich. Er hat mehrere Gestalten. Von dieser Gabe habe ich im Unterricht gehört, aber noch nie war ich live dabei.

„Alva. Ich muss dir ein paar Fragen stellen. Du wirst nämlich verdächtigt, die Attentaten gegen die Höllenflügler begangen zu haben und Mitglied einer Terrorgruppe zu sein." „Und ich bin hier, weil du meine Schülerin bist." Wirft Casey ein, ihr Blick ist an mir vorbei auf einen Punkt hinter mir gerichtet.
Der Seraph nickt. „Wenn du meine Fragen ehrlich beantwortest, wird dir nichts passieren. Du fühlst dich sicher müde, aber bemühe dich bitte, ausführlich zu antworten." Mit einem nicken deutet er auf das schmale, schwarze Armband, das mir die Wächter umgelegt haben. Es blockt die Kräfte jedes Engels und wird immer bei Verhaftungen eingesetzt. Wenn man als Wächterin arbeitet, ist es Pflicht, mindestens ein solches Armband bei sich zu tragen. Ich nicke.

Amyntir zieht Caseys Mappe zu sich. „Vor einem knappen Jahr, genauer gesagt dem 20. August, wurdest du verhaftet, weil du eine Gruppe von Höllenflügler tätlich angegriffen und paralysiert hast. Ist das richtig?"
Ich nicke. „Bitte antworte mit Ja oder Nein."
„Ja."
„Du wurdest verhört, die Dokumentation habe ich hier. Du hast nicht sehr ausführlich geantwortet und nicht auf alles eine Antwort geben können." Ich bin mir nicht sicher, ob das nun eine Frage war und antworte sicherheitshalber einfach mit ja.

„Warum warst du bereits vor einem Jahr im Besitz deiner Kräfte, ohne dies gemeldet zu haben?"
„Ich wusste nicht, dass ich solche Kräfte habe." Ich unterdrücke ein Gähnen. „Mir wurde dies auch verheimlicht, ich habe erst vor kurzem erfahren, was mit den Männern geschehen ist. Von meinen Kräften wusste ich aber schon länger."

Der Seraph nickt und schaut Casey an. „Ist das wahr?"
„Ich habe auch erst spät, von zweiter Quelle, erfahren, was Alva in der Hölle wiederfahren ist. Ich habe ihr einen Kräfteblockenden Ring gegeben, damit nichts mehr passierte. Ich nahm an, es sei das Beste, niemandem davon zu erzählen."
„Deine Annahme war falsch." Seine Stimme klingt verärgert. Casey zuckt nur mit den Schultern.
„Alva, der zweite, öffentliche Vorfall der Paralysation ereignete sich während deiner Prüfung in Glouver. Erinnerst du dich daran." Unsicher schaue ich zu Casey. Langsam nicke ich. „Ich träumte davon."

„Was meinst du damit?" Ich zögere. Wir sollten uns in Glouver benehmen und keine Aufmerksamkeit erregen. Der Seraph schaut mich abwartend an. Schließlich gebe ich nach. Immerhin geht es um meine Zukunft.
„Ich träumte davon, denn erinnern kann ich mich nicht daran. Es war der Abend nachdem die Prüfungsergebnisse herausgekommen sind. Ich feierte dies mit einigen Freunden, konnte mich am Morgen danach jedoch nicht an die Nacht erinnern. Stattdessen träumte ich von der Szene, wie ich die Menschen paralysiert hatte."
Casey schaut mich ehrlich erstaunt an. „Casey, wusstest du das deine Schüler gefeiert haben?" Sie schüttelt den Kopf, in ihren Augen glänzt Wut. „Ich hätte gedacht, sie sind reif genug um zu wissen, was sie tun sollten und was nicht. Wer war alles beteiligt?"

Ich öffne den Mund, aber Amyntir stoppt mich mit einer Handbewegung. „Casey, ich stelle hier die Fragen." Dann wendet er sich mir zu. „Wenn du versuchst, dich an den Abend zu erinnern, was fühlst du dann?"
Ich überlege nicht lange und hole das Gefühl zu mir. „Als würde ich in einer dunklen Masse fischen. Nichts als Dunkelheit und ein Surren im Kopf." Er nickt bedächtig.
„Wusstest du, dass du deinen Lehrer, Aries Gray, paralysiert hast, und dieser jedoch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht werden konnte?" „Casey hatte mich darüber informiert, als sie mir den Ring gab. Seit dann wusste ich es."

Ein stechender Schmerz zuckt von meinem Handgelenk aus in meinen Kopf und ich zucke erschrocken zusammen. Die grünen Augen mustern mich voller Ruhe.
„Versuchs nochmals. Diesmal mit der Wahrheit." Gibt er kühl zurück. Mich schaudert es. Das Armband hat gemerkt, das ich gelogen habe.
„Alva hat die Wahrheit gesagt. Ich habe es ihr erzählt." Sagt Casey.
Der Seraph mustert mich. „Aber etwas an ihrer Aussage war gelogen." Ich schaue auf die Tischplatte.

„Ich wusste bereits vorher, was mit Aries passiert ist." „Woher?" „Ich habe ihn im Krankenhaus besucht." Gebe ich zu.
Caseys Augen werden immer grösser. Aber sie schweigt und ihre Finger trommeln auf den Tisch. „Ab wann wusstest du über deine Gabe Bescheid?" „Nachdem ich zufälligerweise einen Stein paralysiert habe und es Casey erzählt habe. Sie hat mir später erklärt, was es damit auf sich hat."
„Zurück zu diesem Surren in deinem Kopf. Ist dies nur, wenn du versuchst dich an diese Nacht zu erinnern, oder auch sonst da?" „Manchmal in gewissen Situation höre ich es. Aber nur leise."
„Wo warst du, als der Übergriff vom 7. September stattgefunden hat? Am Abend ungefähr um acht Uhr." Überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel überlege ich.

Es war ein Donnerstag und ich war bei Aries. Wir haben uns verabredet und haben zusammen trainiert. Ich muss lächeln. Danach hat er sich Kaffee und mir einen Tee gemacht und wir haben geredet. Ziemlich lange sogar. Ich bringe es nicht über mich.
„Ich war zuhause und hab gelesen." Ein erneuter, stärkerer Schmerz zuckt durch meinen Körper. Er schaut mich an. Sein Gesicht spricht Bände.
„Ich habe mit Aries trainiert." Zische ich. „Dein Training bei ihm ist bereits seit deinem ersten halben Jahr vorbei." Wirft Casey ein.
Ich schaue sie wütend an. War ja klar, dass sie ihren Mund nicht halten kann. „Ich wollte meine Fähigkeiten verbessern." Entgegne ich gereizt. Der Seraph schweigt und starrt mich an.

Dann steht er ohne ein Wort auf und gibt Casey ein Zeichen, den Raum zu verlassen. Er bleibt in der Türe stehen und dreht sich erneut zu mir um. Seine Augen haben erneut die weiße Farbe angenommen. „Wenn du weiterhin lügst und uns nicht alles erzählst, kann ich für nichts garantieren." Bevor ich etwas erwidern kann, hat er die Tür hinter sich zugeschlagen und lässt mich alleine zurück.

White WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt