Silberne Handschuhe #31

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Während Chysa schneller einschläft, als ich es für möglich gehalten habe, kann ich jetzt meine Augen kaum schließen. Das Gespräch hat mir auch nochmals in den Kopf gerüttelt, was auf dem Spiel steht. Meine altbekannten Bauchschmerzen melden sich und ich presse genervt meine Arme auf den Bauch.
Ich hätte nichts mehr essen sollen. Einschlafen kann ich jetzt nicht.
Plötzlich fühlt sich unser Zimmer unglaublich klein an.

Ich muss hier raus!

Leise stehe ich auf, schnappe mir mein Buch und verlasse unser Zimmer. Auf direktem Weg mache ich mich auf den Weg nach draußen, vergewissere mich nochmals rasch, ob ich die Schlüsselkarte auch wirklich dabeihabe.
Der kleine Vorplatz ist menschenleer, der halbvolle Mond wirft sein Licht auf die hellen Pflastersteine. Ich entfalte meine Flügel und fliege in einer steilen Spirale nach oben, bis zum Dach des Ostflügels. Zu meiner Überraschung hat das Dach sogar einen breiten Rand, auf welchem ich mich niederlasse.
Meine Flügel hängen schlaff nach unten und ich lasse meine Füße über den Rand baumelnd. Unter mir geht es bestimmt dreißig Meter nach unten.
Für einen Mensch ein sicheres Todesurteil.
Für mich nur eine lange Zeit, um die Flügel zu entfalten. Aber ich werde nicht runterfallen. Das leichte Gefühl der Angst verdränge ich gekonnt. Ich weiß das ich keine Angst haben muss, runterzufallen.
Ich kann fliegen und habe Flügel.

Ich schlage das Buch auf.
Doch die Seiten sind rabenschwarz. Ich kneife meine Augen zusammen und halte die Seiten ins Mondlicht. Wie dumm bin ich eigentlich? Es ist Nacht, natürlich kann man da nicht einfach draußen lesen.
Ob wohl die Bibliothek noch offen ist? Ich ziehe meine Jacke etwas enger um die Schultern und schaue durch das Glasdach nach unten. Alles sieht dunkel aus, nur am Boden brennen kleine Lichter.
Entschlossen mache ich mich auf den Weg zum Eingang der Bibliothek. Ich drücke gegen die Tür und sie schwingt sofort auf. Ein Lächeln huscht über meine Lippen als ich den dämmrigen Raum betrete.

Nochmals schaue ich mich um, aber niemand ist hier. Meine Schritte hallen ungewöhnlich laut, weshalb ich kurzerhand fliege.
In der gleichen Nische wie am Nachmittag lande ich. Einen Knopfdruck später erhellt sich meine Nische auf eine angenehme Lesestärke. Ich kuschle mich in einen der Sessel, ziehe eine Decke vom Stapel in der Ecke und bette meine Füße auf ein Kissen.
Die haben hier echt an alles gedacht. Zufrieden schlage ich das Buch erneut auf und beginne zu lesen. Ich vergesse die Zeit um mich herum und merke auch nicht, wie ich langsam in den Schlaf drifte. 

Blinzelnd öffne ich meine Augen. Helles Licht tastet sich über mein Gesicht und ich halte mir die Hand vor das Gesicht. Langsam rapple ich mich auf.
Ein stechender Schmerz breitet sich über mein Rückgrat aus und meine Arme kribbeln. Ich stöhne und strecke meinen Rücken durch.
Neben mir liegt ein Buch auf dem Boden. Ich hebe es auf und blinzle den weißlichen Schleier über meinem Blickfeld weg. Das Buch ist das, welches ich gestern angefangen habe zu lesen. Von draußen ertönt ein Poltern und ich tapse auf das Plateau.
Unter mir schiebt eine Frau einen Rollwagen mit Büchern quer durch den Raum. Bin ich gestern in der Bibliothek eingeschlafen? Ich schaue auf die Uhr. Halb zehn! Chysa fragt sich bestimmt schon wo ich bleiben.
Und das Frühstück habe ich auch verpasst. Hastig fahre ich mit meinen Fingern durch meine Haare und falte die zusammengeknüllte Decke.
Mit dem Buch in der Hand fliege ich so schnell wie möglich nach unten und aus der Bibliothek. Den erstaunten Blick der Bibliothekarin ignoriere ich gekonnt.

„Wo kann man bitteschön einschlafen, wenn nicht im Bett?" Noch immer schaut mich Orion aus ungläubigen Augen an.
„Die Kissen und das Sofa sind bequemer als du denkst."
„Natürlich sind die bequem, das weiß ich selbst, aber einschlafen! Das kann ich nur im Bett" Kyro verdreht die Augen.
„Wir wissen beide, dass du sowohl auch auf Stühle im Klassenzimmer schlafen kannst." Orion verschränkt beleidigt die Arme. „Das war nur einmal."
„Sieben Mal, um genau zu sein." Mei schaut von ihrer Zeichnung auf. „Und achtmal hat Aries es gar nicht gemerkt." Der braunhaarige will etwas erwidern aber Chysa schüttelt den Kopf. „Versuch erst gar nicht, eine Ausrede zu finden. Wir hören dich zuhause noch oft weit nach Mitternacht in deinem Zimmer."

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