Erinnerungen #37

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Die Sonne ist längst untergegangen und der Mond leuchtet durch die vergitterten Fenster, als leise Schritte sich mir nähern. Ich richte mich auf und warte. Die Schritte verstummen.
Etwas klickt.
Doch meine Türe öffnet sich nicht. Stattdessen ertönen weitere Schritte, gemischt mit Stimmen. Vertrauten Stimmen.

„Ich sagte doch, ich habe die Flasche gekauft. Aua, verdammte Höllenbrut!" „Das Armband merkt, wenn du lügst." Ich versuche die Stimme zuzuordnen. „Aber ich lüge nicht! Dieses dumme Ding hat eine Fehlfunktion!" Ein erneutes schmerzvolles aufstöhnen verdeutlicht die Situation.
Endlich klickt es an meiner Türe und ich springe auf. Der Seraph persönlich steht vor der Tür, dicht neben ihm steht Orion, welcher mich mit einem schiefen Grinsen mustert.

„Du siehst aus, als kämst du aus dem Höllenfeuer persönlich." Bemerkt er und ich hätte ihm am liebsten eine geklatscht. Das ist ja wohl eines unserer kleinsten Probleme.
„Komm mit." Befiehlt Amyntir mir. Ich gehorche sofort. Zusammen kommen wir in einem Raum an, in welchem, zu meiner Überraschung, bereits alle meine Freunde sitzen.
Orion lässt sich rasch neben Kyro nieder und er lächelt erleichtert. Ich setze mich neben Chysa, welche stocksteif auf ihrem Stuhl sitzt.
„Ich denke ihr wisst alle, warum ihr hier seid." Eröffnet Amyntir das Gespräch. „Ich habe mit jedem von euch bereits einzeln gesprochen und möchte nun nochmals mit allen reden. Einige Fragen sind noch nicht geklärt, vielleicht können wir sie zusammen herausfinden."
Dabei schaut er Orion einen Tick zu lange drohend an. Dieser schaut verlegen weg. „Ich will noch immer wissen, woher ihr diese Flasche hattet." Alle Blicke richten sich auf Orion. Auch ich schaue zu ihm. Dieser setzt ein trotziges Gesicht auf.

„Ja, ich gebe zu, dass ich sie besorgt habe, aber auf ganz legalem Weg." Der Seraph schüttelt den Kopf. „Solch ein Zeug verkauft dir niemand auf legalem Weg." „Was war es denn?" Fragt Mei leise.
„Es heisst Paranum. Vielleicht habt ihr schon einmal davon gehört. Der Name stammt vom Wort Paranoia ab." Wir schütteln den Kopf.
„Davon habe ich noch nie gehört." Orion schaut ehrlich verwirrt. „Auf der Flasche stand nur etwas von Alkohol bei 90%. Da habe ich nicht lange gezögert."
„Wir haben die Reste der Flasche untersucht, die wir bei den Paralysierten Wächtern gefunden haben. Zu eurer DNA konnten wir zu hundert Prozent dieses Getränk feststellen. Nichts anderes." „Was macht dieses Getränk mit uns?" Aarin hat sich aufgerichtet.
„Außer, dass es eine ähnliche Wirkung wie Alkohol hat, macht es euch sehr empfänglich für Außenstehende. Sie können viel leichter in euren Geist eindringen, euch kontrollieren oder euch mit einem Fluch belegen. Wenn jemand zudem die eigene DNA, vorzugsweise Speichel, in das Getränk mischt, hat diese Person eine besondere Macht über euch."

Kyro zuckt angeekelt zusammen. „Das heißt, wir haben vielleicht den Speichel einer anderen Person getrunken?" „Ja, habt ihr. Ich weiß nicht genau, wie es mit euren Gedanken aussieht, aber wenn ihr etwas vergessen habt, hat jemand die Kontrolle über euch."
„Ich erinnere mich an fast alles." Gesteht Lex. Die anderen nicken. „Kleine Bruchstücke fehlen, aber insgesamt weiß ich fast alles." Stimmt auch Orion zu. Dabei wechselt er Blicke mit Kyro, welcher verlegen lächelt.
Ungläubig schaue ich in die Runde. „Warum könnt ihr euch erinnern? Ich kann mich an kaum etwas erinnern!" „Wir träumen Alva. Amyntir hat uns gesagt, dass unsere Träume die Erinnerungen sind." Erleichtert atme ich auf.

Ich bin nicht die einzige, welche diese Träume hat. „An was erinnerst du dich denn?" Fragt Lex vorsichtig.
Ich zögere. „Ich erinnere mich nur an drei Dinge. Einmal wie wir in einen Laden einbrechen und ich die Männer paralysiere. Dann... wie zwei sich küssen." Ich zögere. Scham steigt in mir auf. „Und wie ich jemanden küsse. Aber ich weiß nicht wer. Nur an das Gefühl erinnere ich mich."
Es wird mucksmäuschenstill. Lex schaut mich lange an. Er denkt nach. Orion rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. „Die zwei, welche du gesehen hast. Hast du sie erkannt?" Fragt er mich. Ich mustere ihn genau. Und nicke. „Ja. Ich weiß wer sie waren." Gebe ich zu, bemühe mich, meine Tonlage ruhig zu halten und nicht auf die Person neben Orion zu schauen. Dieser wird knallrot und senkt rasch den Blick.
Lex räuspert sich. „Wenn du nicht weißt, wen du geküsst hast, und du es wissen möchtest." Ich nicke. „Diese Person war ich." Sagt er so schnell, als wäre es ein Wort.

„Überraschung." Chysas Stimme klingt gelangweilt. Empört schaue ich zu ihr. „Überraschung?" Sie seufzt. „Ich bitte dich, jeder hat doch gesehen, wie verschossen Lex in Alva ist. Dumm nur, dass sie es nicht war."
Lex war - ist in mich verliebt? Wie konnte ich das nicht bemerken? „Lex, es..." Er hebt die Hand. „Schon gut. Es war eine einmalige Sache. Ich weiß, dass du mich nicht liebst." Seine Lippen zittern, aber seine Augen sind emotionslos.

Ich weiß nicht was sagen, meine Gedanken sind wie ausradiert. Wie konnte ich das nicht sehen? Lex war von Anfang an nett. Ich dachte, er ist eine freundliche Person. Aber vielleicht war er auch nur so fürsorglich, weil ich ihm mehr bedeutete. Ich traue mich nicht, ihn anzuschauen. Er muss furchtbar enttäuscht gewesen sein, als ich am nächsten Tag nichts zu ihm gesagt habe. Und trotzdem hat er sich nichts anmerken lassen.
„Orion." Bricht der Seraph die Stille. „Ich frage dich ein letztes Mal. Woher hattest du die Flasche?" Angesprochener seufzt. „Ich habe sie von Aries geklaut." Gesteht er.
„Du hast sie gestohlen!" Meis Stimme klingt schrill. Orion winkt ab. „So schlimm war das nicht. Ich habe gesehen, wie Aries die Flasche in seine Tasche gesteckt hat und sie rausgenommen. Was sollte er schon mit dieser anfangen."

„Vielleicht steckt Aries hinter all dem." Vermutet Aarin. „Aries würde das niemals tun! Warum auch?" Verteidige ich ihn. „Du scheinst ziemlich überzeugt."
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Aries die Flasche nicht selbst benutzen wollte. Sicher hat sie ihm jemand geschenkt, um ihn willenlos zu machen." Misstrauisch mustert mich die Gruppe. Ich bemühe mich, nicht wegzuschauen. Aries würde niemals so etwas tun. Was bringt es ihm, mir eine Schuld in die Schuhe zu schieben?

Jemand klopft an die Türe und Casey tritt ein. Sie nickt uns zu und flüstert dem Geflügelten etwas ins Ohr. Ohne weitere Worte verschwindet sie wieder.
„An dieser Stelle breche ich die Diskussion ab. Casey hat mir soeben von einigen Augenzeugen berichtet, welche Alva bei Aries haben trainieren sehen. Und durch die Untersuchung des Paranum ist auch die Schuld von Glouver von dir genommen."

Er bedeutet uns, aufzustehen. „Ihr seid entlassen. Alva, dich brauche ich noch rasch hier." Ich warte, bis alle den Raum verlassen haben und folge dann dem Seraph durch einen anderen Gang.
„Während wir in dem Verhörraum waren, hat meine Sekretärin eine kleine Pressekonferenz zusammengerufen. Sie wird live übertragen und ich brauche dich dabei. Du bist sicher müde und es ist auch schon spät, aber du musst nur neben mir stehen, deine Anwesenheit ist dazu da, alle Gemüter etwas zu beruhigen. Ich werde sprechen. Kriegst du das hin."

Ich bejahe und werde sogleich durch eine weitere Tür geführt. Sofort geht ein Blitzlichtgewitter auf mich nieder und ich kneife meine Augen zusammen. Von allen Seiten ruft mir jemand etwas zu, aber ich starre auf den Boden, während der Seraph alle willkommen heißt.

White WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt