Kein grosses Potenzial? #10

181 11 0
                                    

Entgegen meiner Erwartungen habe ich am nächsten Morgen keine Zeit, auch nur einen Gedanken an Gray zu verschwenden. Ich wache zu spät auf und komme gerade noch rechtzeitig auf der Trainingsinsel an.
Sharon und Jay ignorieren mich, während Lex mir einen entschuldigenden Blick zuwirft.

„Rekruten! Waffen!" Rays Stimme klingt schneidend. „Ich hoffe ihr habt den ruhigen Tag gestern genossen, den heute werden wir uns ganz den Kampftechniken widmen. Entspannen könnt ihr in der Nacht, ich erwarte vollen Einsatz." Sie schwingt ihr Schwert.
„Grundsätzlich wärmen wir uns immer zuerst auf. Wir starten mit drei Runden Rennen um die Insel, dann fünf Runden fliegen, ebenfalls um die Insel. Start!"

Meine Mitbewohner rennen sofort los und ich folge ihnen in gemächlicherem Tempo. Ich habe mir nie besonders mühe um meine Kondition gemacht, weshalb ich bereits zum Ende der ersten Runde nach Luft schnappe.
Ich werde langsamer und meine Lunge sticht schmerzhaft.
Sharon überholt mich, mit einem Grinsen im Gesicht.
Über mir schwingt sich Jay elegant in die Lüfte und Lex ist auch bereits an der dritten Runde.
Erschöpft torkle ich in die letzte Runde, laufe mehr als ich renne und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, als ich zum dritten Mal den Anfang passiere.
Erleichtert bleibe ich stehen, konzentriere mich auf meine Flügel und schlage damit. Sofort löst sich mein erschöpfter Körper vom Boden und ich lasse meine Beine hängen. Mit kräftigen Schlägen fliege ich um die Insel, unter mir warten Sharon und Jay. Meine Atmung verlangsamt sich wieder etwas, meine Beine fühlen sich nicht mehr ganz so wackelig an, als ich nach der fünften Runde lande.

„Nächstes Mal geht das deutlich schneller." Ray funkelt mich aus hellen Augen an und ich senke niedergeschlagen den Kopf.
Was habe ich erwartet?
Das ich gelobt werde, wenn ich keine Kondition habe?
„Nehmt bitte eure Waffen in die Hand und befolgt ganz genau meine Schritte. Verteidigung ist wichtiger als Angriff. Euer Angriff kann noch so gut sein, wenn ihr keine Verteidigung habt, seid ihr die ersten, die zu Boden gehen."

Ray beginnt mit langsamen Schritten, verteidigt sich gegen einen unsichtbaren Gegner und springt elegant zurück. „Ich möchte, dass ihr euch in zweier Teams aufteilt, Jay, du gehst mit Lex und Sharon mit Alva. Jay und Sharon, ihr habt scheinbar bereits etwas Erfahrung, da wäre es schön, wenn ihr euren Partnern helfen könntet. Schließlich wollen wir euch alle auf ein gleiches Level bringen."
Sie nickt uns zu.

„Beginnt!"

Ich bleibe erstarrt stehen, als Sharon sich neben mich stellt, ihre Lippen fast mein Ohr berühren.
„Ich habe gehört, Sonnengewachsene haben eine ganz bestimmte Schwachstelle. Zufälligerweise kenne ich diese." Flüstert sie.
„Dann zeig mir mal was du kannst." Ein Ruck geht durch meinen Körper und ich umklammere meine Dolche.
Sharon schwingt ihr Schwert, so wie es Ray vorhin gemacht hat.
Bevor ich es realisieren kann, liege ich am Boden, von meiner Schulter geht ein schmerzhaftes Ziehen aus.

„Steh auf!"

Ich rapple mich auf und beginne ziellos, sie anzugreifen, in der Hoffnung, nicht gleich erneut auf dem Boden zu landen.

In der Mittagspause sitze ich wie ein zusammengekrümmtes Häufchen auf der Bank. Alles an meinem Körper schmerzt. Ich konnte Sharon kein einziges Mal treffen und immer, wenn ich mich verteidigen sollte, traf sie mich trotzdem. Es würde mich nicht wundern, dass mein Körper mehr mit blauen Flecken bedeckt ist, als von heiler Haut.
Ich reibe meine klammen Hände gegeneinander und betrachte die Schürfwunden an den Knöcheln. Leicht fahre ich darüber und zucke zurück. Ein Brennen bleibt auf der Stelle.
„Du siehst niedergeschlagen aus." Lex setzt sich neben mich, in jeder Hand eine Wasserflasche. „Hier." Er stellt eine neben mich und ich nehme sie dankbar an.

„Alva, ich muss mit dir sprechen." Ray nickt mir zu.
„Ich habe dich während dem Training beobachtet. Du bist die schwächste vom ganzen Team."
Ausgesprochen tut das Gedachte doch mehr weh, als ich erwartet habe. „Das müssen wir ändern." Stellt Ray jedoch fest. „Noch sehe ich zwar kein großes Potenzial in dir." Sie hält inne, mustert mich von oben nach unten. „Anderseits habe ich früher oft Sonnengewachsene trainiert, und keine hat mich bisher enttäuscht. Ich möchte nicht, dass du aus der Reihe fällst."
Sie lächelt mir freundschaftlich zu. „Du solltest die Bewegungsabläufe der anderen studieren und versuchen, diese nachzumachen. Wenn du möchtest, kann ich auch deinen Klassenlehrer fragen, ob er dir Extraunterricht gibt, da er selbst einmal den Weg gegangen ist, den du jetzt betrittst."

Bereits beim Wort Klassenlehrerhüpft mein Herz aufgeregt. Gray!
„Ist das okay? Gray wird sich mit dir in Verbindung setzen." Ich kann nur nicken, Vorfreude erfüllt meinen ganzen Körper.
„Sonst kann ich leider nicht viel für dich tun, der Trainingsplan ist nun mal streng, aber das packst du schon, wenn du dich anstrengst. Also lass deine Chance nicht vorbeifliegen!"

Mein gemütlicher Leseabend wird prompt unterbrochen, als Sharons Stimme durch das ganze Haus schallt. „Alva!" Sie klingt seltsam künstlich und nett.
Misstrauisch stehe ich auf und gehe ohne Eile ins Wohnzimmer.

„Da ist jemand für dich an der Türe." Sharon klimpert mit den Wimpern und deutet zur Tür.
Durch die gläsernen Scheiben erkenn ich eine hochgewachsene Gestalt mit dunklen Haaren. Ich werde knallrot, nuschle ein, „Danke," und haste zur Türe.
Bevor ich sie öffne, streiche ich rasch meine Kleidung und Haare glatt, hole tief Luft und öffne die Türe.

„Hallo Alva. Hast du gerade etwas vor?" Ich schüttle den Kopf und Gray lächelt.
„Gut, dann komm mit mir." Einladend hält er mir die Hand hin und ich ergreife sie schneller als mir lieb ist.
„Wo gehst du hin?" Sharon steht misstrauisch in der Türe, ihr Blick bleibt an unseren verschränkten Händen hängen.
„Alva braucht Extratraining, wir werden noch heute damit anfangen."
Die blonde Frau sieht uns noch immer an, in ihrem Blick spiegelt sich Unglaube. Wortlos dreht sie sich um.
Gray lässt mir kurz Zeit, um meine Flügel zu entfalten und zusammen fliegen wir am Rand des Zentrums, bis zu einer kleinen Insel mit einem hübschen Bungalow und einem eingezäunten Garten.

„Wohnen sie hier?" Er nickt. „Mein Garten ist sehr gut für das Trainieren geeignet, ich habe ihn etwas umgerüstet."
Gray nimmt zwei fast identische Dolche hervor, welche meinen ähneln, jedoch einen anderen Griff haben.
„Nächstes Mal nimmst du deine eigenen Dolche mit, heute sollte es mit denen gehen." Er streckt sie mir entgegen.
„Die Grundlagen beim Kämpfen sind ein sicherer Stand, Balance und in unserem Fall, die Flügel. In dem normalen Training werdet ihr zuerst ohne Flügel kämpfen lernen, damit ihr euch an die Technik gewöhnen könnt. Bei mir wird das nicht der Fall sein. Unsere Flügel sind Bestandteil unseres Lebens, warum als nicht damit kämpfen? Zwei Waffen sind immer besser als nur eine. Dummerweise sind die Flügel auch sehr verletzlich und wenn man sie im falschen Moment draußen hat, ist man bereits besiegt."

Seine Augen bohren sich in meine und ich versuch mich zu konzentrieren „Zeig mal, was du heute gelernt hast."
Ich mache langsame Andeutungen einer Bewegung und schaue unsicher zu ihm. Er schüttelt den Kopf.

„Nein, so geht das nicht. Was bringt Ray dir denn bei? Du hältst bereits die Dolche falsch." Er nimmt meine Hände und platziert sie richtig um den Griff.
„Jetzt hast du einen besseren Halt." Seine warmen Hände verweilen noch kurz auf meinen, bevor er sich zurückzieht.
„Dein Stand ist zwar fest, aber an Balance fehlt es dir. Stell deinen rechten Fuß mehr nach rechts hinten."
Plötzlich motiviert, tue ich was er sagt, während er laufend Sachen an meiner Haltung korrigiert. Ich spüre seine Körperwärme und mir wird trotz dem kühlen Abendwind ganz warm. Seine dunklen Augen, welche mich aufmerksam mustern geben mir eine Sicherheit, welche ich im Training nicht gespürt habe. Und mal wieder vergesse ich ganz, dass er doch eigentlich nur mein Trainer ist.

Klirrend prallen meine Dolche gegen die Wand. In nur einem Wimpernschlag hat Gray sie mir aus den Händen befördert.
„Ich denke das reicht für heute." Mein Atem geht schwer, meine Hände schmerzen von seinem Schlag und erleichtert nicke ich.
„Das hast du sehr gut gemacht." Er hebt die Dolche auf und verstaut sie in seinem Gürtel.
„Wir werden morgen weitermachen. Komm nach dem Training direkt zu mir, dann können wir da anknüpfen, was ihr bei Ray gerade lernt."
„Ich danke ihnen vielmals." Ich verneige mich leicht und er lacht. „Ach bitte, ich helfe immer gerne. Und nenn mich doch bitte Aries, sonst komme ich mir so alt vor."

Meine Wangen glühen, die Frage liegt mir förmlich auf der Zunge. Wie alt ist er denn? Er grinst schelmisch.
„Ich bin 24." Beantwortet er meine unausgesprochene Frage. Verlegen zupfe ich an meinem Shirt herum und weiß nicht so recht, was antworten.
„Wir sehen uns morgen." Unterbricht er die Stille. Sofort flattere ich mit meinen Flügeln. „Komm gut nach Hause."

Leise öffne ich die Tür und schleiche auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer ins Bad. Ein leises Quietschen lässt mich innehalten und ein blonder Schopf linst durch ihre Türe. „Endlich zurück? Das hat ja lange gedauert." Ihr Blick wandert über meinen Körper und ich verschränke die Arme.
„Ja, es hat länger gedauert als gedacht." Antworte ich, bereue meine Antwort sofort. Sharons Augen leuchten wissend auf und ich will ihr zurufen, dass sie etwas ganz Falsches denkt, aber da hat sie ihre Türe bereits geschlossen und lässt mich alleine im dunklen Gang zurück. Na toll.

----------
Sharon vermutet etwas... ob sie wohl richtig liegt???

White WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt