Steine schweben nicht #19

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Ohne ein Ziel zu verfolgen, laufe ich die Straße entlang, einfach nur weg vom Haus, indem Ryan ist.
Es fühlt sich befreiend an, mich mit ihm ausgesprochen zu haben. Mein Herz fühlt sich viel leichter an, als vorhin, wird jedoch mit der Tatsache, dass ich ihn verletzt habe, wieder tonnenweise nach unten gezogen.

Habe ich ihn jemals geliebt?

Klar, mit sechzehn schwärmt man doch von fast jedem, die Gefühle fühlen sich toll an, man fühlt sich besonders und denkt, dass man den Rest seines Lebens mit der Person verbringen möchte.
So ging es mir jedenfalls.
Es war eine Qual, niemandem von meinem Glück zu erzählen, immer musste ich mir eine Ausrede einfallen lassen, warum ich nicht aufhören konnte zu grinsen.

Doch jetzt.

Ich bin älter, würde jedoch nicht behaupten, mich weniger wie eine verliebte Teenagerin zu verhalten, aber ich weiß, für wen ich etwas empfinde.
Und das ist nicht Ryan.
Es ist... Ich schüttle den Kopf.

Nein!

Er hat mir deutlich klar gemacht, dass es falsch wäre, Gefühle für ihn zu empfinden.
Ich habe ihn geküsst und er hat mich fortgestoßen, als sei ich Ballast.
Wütend kicke ich einen losen Stein vor mir her, hoffe, dass er irgendetwas kaputtschlägt. Aber der Stein rollt fröhlich vor mir her, als wollte er mich ärgern.

„Dann geh doch sterben!" Schreie ich den Stein an und verpasse ihm einen gewaltigen Stoß.
Doch anstatt sich zu bewegen, wie ich es erwartet hatte, bleibt er an Ort und Stelle in der Luft.
Erschrocken bleibe ich stehen.

Ein leicht bläuliches Licht umgibt den Stein, während er in der Luft schwebt. Vorsichtig tippe ich ihn an.
Sofort verschwindet der leuchtende Schein und der Aufprall hallt in der leeren Straße unendlich mal wieder.

„Was zum..."

Ich nehme den Stein, untersuche ihn, aber er sieht aus wie ein ganz normaler Stein.
Was war das?
Nichts deutet darauf hin, dass er eben noch in der Luft stillgestanden hat.
Aber wenn es nicht der Stein war, war das dann... War das ich?
Habe ich ihn zum Schweben gebracht?
Mit dem Stein in der Hand renne ich so schnell es geht zurück nach Hause, ungeachtet, ob Ryan noch da ist.

Ich muss sofort mit Ray sprechen.

Das leise Summgeräusch macht mich wahnsinnig, aber ich versuche trotzdem, dem Gerät keinen Stoß zu verpassen.
Endlich ertönt ein klacken, eine kleine durchsichtige Wand erscheint vor mir, aus welcher sich Rays Oberkörper manifestiert. Sie sieht genervt aus.

„Alva? Warum weckst du mich mitten in der Nach?"
Ich halte den Stein vor mich. „Er hat geschwebt."
„Was hat geschwebt?" Sie reibt sich die Stirn. „Der Stein? Steine schweben nicht."
„Ja, aber..."
„Alva, kann das nicht bis nach den Ferien warten?"
„Nein!" Sage ich bestimmt. „Ich war draußen spazieren und habe den Stein vor mir hergeschoben. Und dann ist er plötzlich stehen geblieben! Mitten in der Luft. Und er hat blau geleuchtet!"

Plötzlich sieht Ray gar nicht mehr müde aus. „Du sagst, er hat geleuchtet?"
Sie glaubt mir!
„Alva, erzähl niemandem etwas davon." Sagt sie sofort, einen warnenden Blick im Gesicht.
Heftig nicke ich. „Natürlich nicht."
„Erzähl mir ganz genau, was du auf dem Spaziergang gemacht hast. Und keine Ausschmückungen, ich will wissen, was du gesagt, getan und gefühlt hast."

Kurz zögere ich. Ich muss ihr ja nicht erzählen, warum ich so wütend war.
So wie Ray aussieht, weiß sie ziemlich genau, was mit dem Stein passiert war.

Also beginne ich zu erzählen.

Und mit jedem Satz wird Rays Gesicht blasser.

Als ich geendet habe, streicht sich Ray gestresst durch die Haare.
„Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?" Frage ich. Sie nickt.
„Ja, leider." Gespannt schaue ich sie an, abwartend, ob sie mich aufklärt. Aber sie bleibt stumm.
„Und?"
„Hör zu, ich muss mit jemandem Kontakt aufnehmen und das regeln, aber versuch in der Zwischenzeit, keine negativen Gefühlsausbrüche zu haben, dann wird nichts weiteres passieren."
„Aber, werden Sie mir nicht erzählen, was da passiert ist?"
„Ich werde es dir schon noch erklären, aber fürs erste musst du mir vertrauen und mich machen lassen, okay?"

Wiederwillig nicke ich.

„Vielen Dank. Ich werde mich sofort wieder bei dir melden, wenn ich weiteres habe. Bis dahin vergiss bitte nicht, möglichst ruhig zu bleiben und deine Gefühle unter Kontrolle zu behalten." Dabei betont sie das Wort Gefühleund kontrollierenbesonders, als ob ich ein Kleinkind wäre, dem man alles klar und deutlich sagen muss.
„Ja, schon verstanden, keine Gefühlsausbrüche."
„Keine Negativen." Korrigiert sie mich.
„Jaja, gut. Danke Ray."
Sie lächelt. „Bis bald Alva."

Dann verschwindet die flimmernde Wand und ich sitze alleine auf dem Bett.
Leise tapse ich den Gang entlang. Draußen ist alles ruhig, die Ansons sind gegangen und meine Eltern ins Bett. Ich schaue auf die Uhr und meine Schritte werden sofort schneller.
Vor dem Haus entdecke ich in der Nähe keinen hohen Berg, also bleibt mir keine Wahl, als zum höchsten Gebäude der Stadt zu fliegen, welches schon fast die rötlichen Wolken berührt. Die Straße ist wie vorhin schon leer, in den Häusern ist es größtenteils dunkel.

Entschlossen falte ich meine Flügel auf, welche sofort blau anfangen zu leuchten und schwinge mich hoch.
Auf dem Gebäude lasse ich sie sofort wieder verschwinden und setze mich ganz nahe an den Rand des Daches.

Und als in weiter Ferne das Höllentor zu leuchten beginnt, kann ich für einen Moment die dunkle Welt um mich herum vergessen.
Nur noch die hellen Lichter existieren in meinem Kopf.

So hell wie die Sonne.

So wunderschön wie die Sterne. 

Aber doch so kalt wie Eis.

Sie verpuffen jeden Morgen, sterben und werden am nächsten Abend wieder zum Leben erweckt. Es klingt schon fast poetisch, denn im Grunde passiert uns das gleiche. Wir wachen auf, voller Leben, schlafen am Abend ein, ohne mitzubekommen, was um uns herum passiert.
Ein lächeln schleicht sich über meine Lippen.

Wir sind wie Sterne.

Ohne es richtig zu merken, entfalte ich meine Flügel und erhebe mich vom Dach.
Und es kümmert mich kein bisschen, ob mich jeder sehen kann oder nicht.

Ich bin nur ein weiterer leuchtender Stern am Himmel.

Meine Mutter spricht mich kein einziges Mal auf Ryan an. Ich sehe, wie sie sich mit meinem Vater Mühe gibt, mich wie früher zu behandeln. Sie zeigen mir die Stadt, bringen mich zu Feuerfront und sogar drüber. Ich bin dankbar für die Ablenkung und schon bald ist es wieder Zeit, nach Hause zu gehen.
Ich verabschiede mich von meinen Eltern, aber bevor ich gehen kann, hält mich meine Mutter zurück.
„Alva. Ich habe extra nie etwas erwähnt, aber... Wenn du Probleme hast, kannst du immer mit mir sprechen."
„Danke Mom, ich werde sicher mal darauf zurückkommen."
Sie lächelt und umarmt mich. Mit deutlich besserer Laune verlasse ich die Hölle, bin froh, dass es dieses Mal ohne Zwischenfälle verläuft.

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