Weisse Federn im dunklen See #11

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Die nächsten Tage ziehen wie im Flug vorbei. Das Training lässt nicht viel Zeit für anderes. Selbst wenn ich Zeit habe, bin ich viel zu müde, um etwas zu unternehmen.
Meinen Mitbewohnern geht es nicht anders, wir schleichen tagsüber umeinander rum, sprechen kaum miteinander und kommunizieren nur, wenn nichts Essbares mehr rumliegt. Unsere Wohnung sieht entsprechend aus, niemand kommt zum Abwasch, das Geschirr stapelt sich, im Badezimmer liegen Tücher am Boden und in meinem Zimmer stehen noch immer die gepackten Koffer.

Als ich am Samstagmorgen erwache, fühle ich mich jedoch um einiges besser. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät mir, das bereits Mittag ist.
Gut gelaunt trete ich in das Wohnzimmer, welches jedoch leer ist, genauso wie die Küche und das Bad.
Auf dem Tresen entdecke ich einen kleinen Zettel, mit schön geschwungenen Buchstaben.

Glückwunsch, ihr habt die erste Woche überstanden. Da ich kommende Woche auf einer Ausbildnerkonferenz bin, werdet ihr erst in neun Tagen wieder Schule haben. Da ihr nach der Flüglerzeremonie so wenig Zeit hattet, euch einzurichten, habe ich, zusammen mit den anderen Trainern beschlossen, euch allen diese Woche zu schenken. Ich erwarte aber, dass ihr die Woche nicht nur zum Ausruhen, sondern auch zum Training nutzt. Wenn ich zurück bin, verlange ich vollen Einsatz!
- Ray.

Eine ganze Woche frei!
Das trifft sich super. Prompt frage ich mich, ob ich trotzdem noch zu Gray - Aries gehen muss. Ich verdränge die Frage und stürme voller Tatendrang zurück in mein Zimmer. Ich muss mir eine Liste machen, was ich unternehmen soll.

Vorhänge kaufen. Teppich kaufen.

Nachdenklich kaue ich an meinen Nägeln herum.
Was noch?
Ryan!
Erschrocken zucke ich zusammen. Die ganze Woche habe ich kein einziges Mal an Ryan oder meine Familie gedacht! Ich muss sie besuchen.
Schnell schreibe ich, Ryan, Mam&Dad besuchen, auf.
Ich füge meiner Liste noch einige Kleinigkeiten hinzu, wie ausräumen und Poster aufkleben. Rot unterstreiche ich den Punkt Abwasch&Putzen.

Nach einem gemütlichen Frühstück mache ich mich auf den Weg in die Stadt.
Für einen Samstagmittag ist es ziemlich ausgestorben, und ich erinnere mich, dass nicht viele Menschen im Himmel leben. Der Himmel hat zwar die meisten Arbeitsstellen, wird jedoch nur zu 45 Prozent von Engeln bewohnt, wir Schüler eingeschlossen. Die meiste bebaute Fläche sind Industriegebäude, Bildungshäuser und Schulen.
Ich steuere auf das Horizontgebäude zu und trete in die Marmorhalle ein. Totenstille empfängt mich, eine einzelne Seele winkt mir freundlich entgegen.

„Guten Tag, wie kann ich ihnen helfen?" Ich gehe zum jungen Engel hin und lehne mich gegen den Tresen.
„Ich möchte gerne meine Familie besuchen und wollte fragen, wie ich dies machen kann und ob ich etwas Spezielles benötige."
„Wo lebt ihre Familie denn?"
Kurz zögere ich. „Hölle." Flüstere ich.
Der Mann schaut mich kurz prüfend an und tippt etwas in seinen Computer. „Dafür brauchen sie eigentlich nichts weiter als ihren Ausweis. Wenn sie diesen zeigen, und sich als," er schaut sich meinen Ausweis an. „Als Schülerin präsentieren sollte nichts schief gehen."
„Und wie gelange ich in die Hölle?" Frage ich.
„Dafür nehmen sie am besten den westlichen Eingang, der ist am nächsten zu einem der unseren. Sie müssen durch unser Tor in die normale Welt, dann immer nach Westen halten, über das westliche Feuerdorf hinweg, dann können sie den Eingang unmöglich verfehlen."
Er gibt mir ein kleines, plättchenförmiges Gerät. „Eine Karte, so können sie immer sehen, wo sie sich befinden. Das wird hilfreich sein."

Mit der kleinen Landkarte in der Tasche beschließe ich, zuerst Vorhänge und einen Teppich zu kaufen, damit ich mich heute meiner Einrichtung widmen kann. Wenn ich morgen zu meiner Familie aufbreche, kann ich vielleicht ein bis zwei Tage bleiben und noch Ryan besuchen gehen.

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