Wenn ich doch nur meine Dolche hätte #36

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Von draußen höre ich leise Stimmen, doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich verstehe nichts. Schlussendlich öffnet sich die Türe und Amyntir tritt ein. „Komm mit." Er hat sein altes Aussehen behalten, weshalb ich ihn eingehend mustere, während er vor mir läuft.
Wir begegnen auf dem Weg niemandem, was mich mehr als verwundert. Ich war zwar erst wenige Male hier, aber immer wimmelte es von Menschen.

„Es wird gleich jemand kommen und dich untersuchen. Danach hole ich dich wieder ab." Ich habe gar nicht gemerkt, wie wir in ein kleines Arztzimmer gegangen sind. „Untersuchen?" Er nickt. „Nichts schlimmes, keine Angst. Aber ich habe einen kleinen Verdacht."
Einen Verdacht? Ich setze mich auf die Liege und betrachte den Raum. Was der Seraph wohl vermutet? Untersucht er mich, was ich damals getrunken habe? Das wird man ja wohl nicht ein paar Monate später noch sehen können. Oder er denkt ich lüge noch immer und will in meine Gedanken sehen. Geht das überhaupt? Braucht man dafür nicht eine Genehmigung oder so? Anderseits bin ich volljährig, die einzige Erlaubnis, welche sie benötigen ist von mir. Oder sie untersuchen meine Kräfte näher. Oder sie nehmen sie mir weg.
Ich schüttle den Kopf. Ich muss mich beruhigen. Langsam atme ich ein und aus, ordne meine Gedanken und zähle leise die Waffen der Größenordnung nach auf. Erstens beruhig es mich, zweitens muss ich diese Reihenfolge für meine nächste Prüfung wissen.
Falls ich bis dahin nicht im Gefängnis sitze.
Und schon wieder versinke ich in Panik. Wenn ich im Gefängnis bin, kann ich nicht Wächterin sein, wenn ich nicht arbeite kann ich kein Geld verdienen. Meine Eltern können mich nicht sehen.
Es ist zum verrückt werden. Plötzlich beginnt es erneut in meinem Kopf zu surren. Es ist lauter als die letzten Male und ich halte mir die Ohren zu. Es bringt nichts.

„Ist das Surren wieder da?"
Ich springe fast von der Liege. Eine Frau mittleren Alters sitzt neben mir auf einem Stuhl und beobachtet mich. Das unangenehme Geräusch wird sofort leiser.
„Wer sind sie?" „Ich bin deine Ärztin. Ist das Surren wieder da?" Wiederholt sie ihre Frage. „Ja, ist es. Aber nicht mehr so stark wie vorhin gerade."
Sie steht auf. „Darf ich?" Sie berührt mich an der Schulter und ich nicke.
Sie fährt mit ihren Fingern meinen Nacken hoch und ein kalter Schauer rieselt durch meine Haut. Konzentriert starrt sie durch mich durch, ihre Hände fahren über meine Schultern und über mein Dekolleté. Als sie nicht stoppt, zieht sich mein Magen etwas zusammen. Sie lässt ihre Hände über meine Seite bis zu den Hüften gleiten und verharrt kurz. Dann legt sie beide Hände auf meinen Kopf und mir wird zuerst kalt und dann schwindelig. Nach halt suchend taste ich hinter mir auf der Liege herum.

Die Ärztin nimmt ihre Arme zurück, hastet zu einem Stück Papier und kritzelt einige Stichworte hin.
Ich ziehe meinen Pullover nach unten und lehne mich nach vorne. Sofort zieht sie den Schnipsel zu sich und somit aus meinem Blickfeld.
„Was ist los?" Frage ich. „Ich hole besser Amyntir. Er soll es auch hören." Murmelt sie, geht nicht auf meine Frage ein. Ungeduldig verschränke ich die Arme. „Was ist los?" Frage ich mit lauterem Tonfall. „Bin gleich zurück."
Sie rennt förmlich aus dem Zimmer und ich schnaube wütend. Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu warten. Aufstehen und sie suchen gehen hat keinen Sinn, sonst würden sie es noch als einen Ausbruchsversuch sehen. Ich lehne mich auf der Liege zurück und schließe die Augen.

Ich bin müde.

So müde.

„Du denkst also, dass sie kontrolliert wird?" „Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher."
„Wie können wir sie zurückbekommen?" „Ganz so einfach ist es nicht. Sie ist sich dessen bewusst was sie tut. Ihre Gedanken werden so infiltriert, dass sie denkt es währen ihre eigenen. Wir können den Fremden nicht einfach auslöschen, sonst stirbt sie mit."
Eigentlich wollte ich mich schlafend stellen, aber bei diesem letzten Satz.
„Ich sterbe!"
Kerzengerade sitze ich auf der Liege, vor mir stehen Amyntir und die Ärztin. Er seufzt.
„Wie viel hast du mitbekommen?" „Ab kontrollieren." Murmle ich ertappt. „Wir werden dich sicher nicht töten." Beruhigt die Ärztin mich. „Wie bringen wir den Fremden aus ihrem Kopf?" Fährt der Seraph mit der Unterhaltung weiter.
„Gar nicht. Bei dieser Art der Übernahme muss derjenige, welche sie kontrolliert dies freiwillig aufgeben." „Das heißt wir müssen die Person ausfindig machen." Überlegt er. „Ganz genau."

„Seit wann werde ich kontrolliert?" Schalte ich mich ein. „Seitdem du dieses Surren hörst. Wir nehmen an, seid ihr bei der Prüfung etwas getrunken habt."
„Dieses Surren. Jedes Mal wenn ich nervös bin oder aufgeregt, beruhig es mich. Ist das eine Nebenwirkung?"
„Nein, dieses Surren hörst du, wenn die Person etwas in deine Gedanken oder in diesem Fall, in deine Gefühle pflanzt. Es scheint, als möchte sie nicht, dass du aufgeregt bist. Oder dich eben an diese Nacht erinnerst." Ich nicke langsam.
„Alva." Der Seraph schaut mich ernst an. „Wenn wir herausfinden wollen, wer das war, musst du uns sagen, mit wem du in dieser Nach zusammen warst. Damit wir sie befragen können. Die Konsequenzen werden sie tragen müssen."

Ich falte meine Hände auf meinem Schoss. „Ich war mit Lex, Mei, Orion, Chysa, Kyro, Luna und Aarin, zusammen. Orion hatte die Idee zur Party. Ich denke er ist auch derjenige, welche uns etwas zu trinken besorgt hat."
Er wirkt erleichtert. „Vielen Dank Alva. Du hast uns sehr geholfen. Ich werde alle gleich holen lassen und befragen. Solange wirst du in eine der Zellen gebracht, zu deiner eigenen Sicherheit." Er tritt nach draußen und winkt einige Wächter herein. Widerstandslos folge ich ihnen, höre das leise Surren in meinem Hinterkopf und versuche die aufkommende Wut zu unterdrücken. Auch wenn ich wütend war, wurde es stärker. Ich will auf keinen Fall, das mich jemand jetzt, wo ich es weiß, kontrolliert. Von weiter her sind laute Stimmen zu hören, aber die Wächter um mich herum laufen unbeirrt weiter.

Draußen herrscht ein großer Andrang.
Zuerst erkenne ich nicht, weshalb, da die Wächter sich in einem geschlossenen Kreis um mich herum befinden, aber als die ersten Lichtblitze fallen, wird es mir klar. Journalisten.
Sie rennen auf uns zu, als sie mich darin erkennen. Die Wächter spannen ihre Flügel notdürftig über mich. Ich schaue zu Boden und versuche nicht hinzuhören, was sie rufen.

Sind sie diejenige, welche die Attentate verübt hat?

Bekennen sie sich schuldig?

Warum richten sie sich gegen ihre eigene Rasse?

Werden sie vor Gericht aussagen?

Sind sie eine der Anführerinnen einer Terroristengruppe?

Wie lange arbeiten sie bereits mit ihrem Untergrundpartner zusammen?

Alva Devyn, ist ihre Familie enttäuscht von ihnen?

Doch der letzte Satz ist genug. Ich breche in Sekundenschnelle aus dem schützenden Kreis und kralle mir den Reporter am Kragen. Sofort geht ein Blitzlichtgewitter auf uns nieder.
„Unterstehen sie sich, meine Familie damit reinzuziehen!" Kreische ich. „Sie haben nichts damit zu tun, und ich genauso wenig."
Grob werde ich nach hinten gerissen und in die Luft gehoben. Sie tragen mich weg. Wild strample ich mit den Beinen.
Dieser Journalist kann was erleben! Wenn ich doch nur meine Dolche hätte. Seine Jacke war aus Stoff, ein gezielter Wurf in die Brust und er...

Nein!

Was denke ich da?

Durch die lauten Stimmen nehme ich das Geräusch der Kontrolle kaum war. Die Wächter drängen die Journalisten zurück, drohen ihnen mit einer Lebenslangen Verweisung und zücken ihre Waffen. Mein Wutanfall hat mich noch erschöpfter gemacht, als ich bereits vorhin war. Eine fast unheimliche Stille breitet sich in meinem Kopf aus.
Na los! Mach etwas! Schreie ich die Person in meinen Gedanken an. Aber nichts passiert. Sie bleibt stumm, hat sich aus meinen Gedanken zurückgezogen. Was habe ich auch erwartet? Das mir eine Stimme antwortet, wie im Film? Nur bin ich weder in einem Film, noch in einem Buch.

Das hier ist die Realität.

Und mit meiner unkontrollierten Handlung habe ich mich noch tiefer in das Himmelsfeuer geflogen, als ich schon drin bin.

Na toll.

White WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt