› 1 ‹ Von Lautsprecherdurchsagen und Kugelschreiberstrichen

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wish i never met you - loote

Die Straßenbahn hält an und ich klammere mich an der Stange fest, wie an einem Fels in der Brandung, um nicht von der Menschenmenge mitgerissen zu werden, die an der Haltestelle am Hauptbahnhof aussteigen will.

Ich sehe, wie ein Zweiersitz frei wird und lasse mich auf den bunt gemusterten Platz am Fester fallen, bevor ihn mir ein anderer Fahrgast wegnehmen kann. Lange genug bin ich schon rumgestanden.

Ein paar neue Menschen steigen ein, doch ich achte nicht sonderlich auf sie, sondern bin damit beschäftigt, meinen dunklen Rucksack auszuziehen und meine Trinkflasche, aus der ich kurz zuvor noch einen Schluck genommen habe, hineinzustopfen. Der Reißverschluss klemmt wie immer etwas und ich fluche leise, bis ich den Rucksack endlich geschlossen hatte.

Ich hebe den Blick wieder und sehe aus dem Augenwinkel, wie jemand in einem schwarzen Kapuzenpullover durch die sich schließenden Türen noch in die Straßenbahn springt.

Der hat aber gerade noch Glück gehabt.

Er dreht seinen Kopf hektisch nach rechts und links als suche er etwas oder jemanden. Sein Blick landet auf mir - jedenfalls glaube ich das, denn die Kapuze verdeckt seine Augen - und ich senke hastig den Kopf und nestle am Reißverschluss meines abgetragenen Rucksacks herum.

Jemand lässt sich wenige Sekunden später auf den freien Platz neben mir fallen und ich fahre zusammen. Ich bin eindeutig zu schreckhaft geworden.

Zaghaft hebe ich meinen Blick und streiche mir die dunkelbraunen Strähnen aus dem Gesicht, um die Person anschauen zu können. Mir stockt der Atem, als ich in die dunklen Augen meines Sitznachbarn, die im Schatten der Kapuze liegen, sehe. Es ist der Typ von gerade eben.

»Bitte spiel mit«, flüstert er rau mit wild umherhuschenden Augen und bevor ich ihn verwirrt fragen kann, was er denn von mir wolle, hat er einen kräftigen Arm um mich gelegt und mich an seine breite Brust gezogen, die sich unter dem schwarzen Stoff hektisch hebt und senkt.

»Was soll das?«, zische ich, versuche aber nicht, mich zu befreien. Vielleicht ist es besser so.

»Spiel einfach kurz meine Freundin, ok? Bitte.« Ich höre die leise Verzweiflung aus seiner gesenkten Stimme heraus und habe urplötzlich Mitleid mit ihm, weswegen ich kurz nicke.

»Danke. Und jetzt schlaf.«

Er legt sein Kinn auf meinem Kopf ab und mit flatternden Lidern schließe ich meine Augen. Ich versuche, mich zu entspannen, was gar nicht so einfach ist, wenn man mitten in der Straßenbahn die Freundin eines Fremden spielen muss.

Doch irgendwie habe ich Mitleid mit ihm, was auch immer ihm widerfahren ist, dass er sich mitten in einer Straßenbahn verstecken muss.

Sein Duft steigt mir in die Nase. Er riecht nach salziger Brandung und der unendlichen, wilden Freiheit des Ozeans.

Langsam beruhigt sich sein Atem und sein Herz, das kräftig unter meinem Ohr schlägt, wird ebenfalls wieder ruhiger und scheint keinen Marathon mehr zu laufen.

Fast schon habe ich mich an seine Wärme und das Meer, das er mit sich bringt, gewöhnt, als er sein kantiges Kinn wieder anhebt. Meine Augen öffnen sich und ich hebe meinen Kopf von seiner kuschligen Brust. Sein Arm verschwindet von meinem Rücken und der Fremde lehnt sich zurück.

Fast schon vermisse ich seine unbekannte Wärme.

»Danke, du hast mich gerettet«, flüstert er mir mit rauer Stimme zu, nachdem er seinen Blick noch einmal durch die Straßenbahn hat wandern lassen, die gerade wieder ein paar Fahrgäste an einer Haltestelle ausgespuckt hat.

Absturznächte [abgebrochen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt