› 6 ‹ Von Familiengräbern und Anwesenheitslisten

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direction - solence

»Wala, ich muss dir nacher in der Pause unbedingt etwas erzählen«, bestürme ich meine beste Freundin sogleich, als ich sie im Klassenraum entdecke, bevor ich es mir anders überlegen kann. Heute habe ich eine Stunde später Unterrichtsbeginn als sie, weswegen wir uns noch nicht auf dem Weg zur Schule getroffen haben.

Sie springt aus ihrem Stuhl auf, lässt den Stift fallen, den sie zuvor noch gelangweilt zwischen den Fingern gedreht hat, und läuft auf mich zu. »Was ist den los?« Ihre Augen glänzen freudig, sie liebt Neuigkeiten oder generell alles, was vom tristen Schulalltag in entferntester Weise ablenkt.

»Nacher, es ist zu viel für vor dem Unterricht. Aber sei gespannt.« Ich zwinkere ihr zu und lege meine Schulsachen zwei Plätze weiter neben Julie, die ebenfalls eine Freundin von mir ist. Um genau zu sein habe ich nur die zwei.

»Das bin ich sicherlich. Und lass ja nichts aus«, ruft mir Wala noch warnend hinterher, was ich mit einem Lachen quittiere.

»Du erzählst es mir doch hoffentlich auch«, flüstert Julie, da der Lehrer gerade den Raum betrat, und setzt einen treuherzigen Blick auf, bei dem jeder Mensch weich wird.

»Klar.« Ich grinse sie an und widme mich dann unserem Deutschlehrer, der die Klasse gerade begrüßt.

Doch meine Gedanken bleiben nicht beim Unterricht, der Stoff ist nicht klausurrelevant. Vielmehr überlege ich, ob es richtig ist, wenn ich Wala und Julie von Leyan erzähle. Zum einen sind sie wirklich meine Freundinnen und ich will unbedingt ihre Meinung zu der Situation wissen. Zum anderen ist es spannend, Leyan als Geheimnis zu hüten und ich weiß nicht, ob es das Richtige ist, etwas von ihm weiter zu erzählen.

Doch jetzt ist es zu spät. Ich habe ihnen schon Bescheid gesagt, dass es etwas Wichtiges zu bereden gibt und das darf ich jetzt nicht einfach wieder vergessen machen.

‹.•°•.

»Jetzt rück endlich raus mit der Sprache!«, fordert Wala mich auf, kaum dass wir den Raum verlassen haben. Julie taucht zu meiner anderen Seite auf. Auch ihre Augen glänzen neugierig.

»Wartet doch wenigstens bis wir aus dem Gebäude raus sind.«

Wir laufen in raschem Tempo die Stufen aus dem zweiten Stock nach unten, in der Hoffnung, dass die Bank, auf der wir unseren Stammplatz haben, noch frei war.

»Wie heißt er, sieht er gut aus, wo wohnt er und hast du seine Nummer?«, häuft Wala mich mit Fragen voll und zupft ihr Kopftuch zurecht. Wie hat sie das bitte erraten?

»Leyan. Ich habe ihn nicht ganz gesehen, aber ich würde schon ja sagen. Weiß ich nicht. Ja.«

Julie runzelt die Stirn. »Eure Namen sind ja doof. Da kann man gar keine richtigen Shipnames erfinden. Nur Siyan und Leran.« Jetzt fängt sie auch noch an.

Sobald es auch nur die geringsten Anzeichen gibt, dass jemand mit einer anderen Person zusammen kommen könnte, planen sie vom ersten Date bis zum Familiengrab alles, es kommt auf die Sympathien zwischen uns und dem „Paar" an. Was ich aus der Reaktion gerade schließe, würde ich sagen, dass sie etwa bei Antrag oder Hochzeit angekommen sind.

»Also, wir habt ihr euch kennengelernt?« Wala verknotet ihre Finger miteinander und stützt ihren Kopf darauf ab. »Und lass ja nichts aus. Wir wollen alles wissen.«

Ergeben erzähle ich den beiden die ganze Geschichte, von der Straßenbahn bis zur Nummer, was wir schrieben ließ ich aus. Sie müssen nichts alles erfahren, auch wenn sie meine Freundinnen sind. Außerdem ist es Leyan vielleicht zu privat, ich kenne ihn schließlich nicht.

Absturznächte [abgebrochen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt