› 23 ‹ Von Kellerräumen und Spielschulden

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Kälte. Dunkelheit, überall nur Dunkelheit. Düster und zäh legt sie sich um mich, bettet mich ein, heißt mich willkommen. Doch alles, was ich will, ist schreien. Schreien, bis ich keine Luft mehr habe, bis alle Dunkelheit aus mir gewichen ist. Bis mich jemand findet und in den Arm nimmt. Bis ich in Sicherhiet bin. Es wäre so schön.

Kein Geräusch dringt an meine Ohren, nur mein Atmen, immer nur mein Atmen und das Rauschen des Blutes, das durch meine Venen dringt, mich am Leben erhält. Doch was ist das für ein Leben? In diesem Keller, ohne das Licht, das mich erwärmt, mein schwaches Herz wiederbelebt. Nur Kälte und Dunkelheit.

Ich bin noch nicht lange hier, jedenfalls glaube ich das. Höchstens ein paar Tage. Oder nicht? Zwei-, dreimal, vielleicht auch viermal am Tag kommt er hier runter, gibt mir Essen und Trinken, erhält mich am Leben. Ich weiß nicht, was er will, bekomme zu wenig mit. Ich bin nur hier, eingesperrt, entführt. Ohne Ende.

Meine Mutter, meine schreckliche Mutter, die mich verließ, als ich es noch nicht begreifen konnte. Ich kann es immer noch nicht. Dabei bin ich siebzehn. Oder doch wieder zehn. Meine Mutter, alleine sie ist an all dem schuld. Doch sind Spielschulden denn Grund genug, ein kleines Mädchen zu entführen?

Meine Glieder schmerzen, mein Mund ist trocken, alles ist so real. Als wäre ich wieder zehn, verängstigt und allein. Angst umkrallt mein Herz, bestimmt seine Schläge. Wie gerne wäre ich frei, frei von all der Dunkelheit, die mich fesselt, mich knebelt.

Die Kellertür öffnet sich, ganz still und leise. Kein Knall, laut und schallend. Nur dieses schüchterne Klacken, das meinen Kopf nach oben schnellen lässt.

Die Angst drückt zu, meine Glieder, meine Knochen, alles an mir zittert. Er tut mir nichts an, nichts Körperliches. Doch meine Seele ist zertrümmert, voller Schatten. Aber jedes Mal, wenn er hier ist, kann ich mich nicht bewegen, nicht einmal atmen.

Ein Flüstern, eine Stimme. Oder zwei? Viel jünger, ungebrauchter, unschuldiger als die, die die letzten Tage meine Gedanken füllte.

Nichts bewegt sich, nur der winzige Lichtstrahl, der in den kalten Kellerraum hineinragt, zeugt davon, dass ich nicht alleine bin. Oder bildet sich mein krankes Hirn das alles nur ein? Eine Wahnvorstellung, eine Wunschvorstellung.

Das Licht verbreitert sich, jemand ist mutig, tritt die erste Stufe hinunter. Ich presse mich fest an die Wand, die kalte, raue Wand, will mit ihr verschmelzen. Niemand soll mich hier sehen, nicht so. Doch, was wenn es meine Rettung ist? Daran glaube ich nicht.

Wieder leise Stimmen, beinahe noch Kinder. Können sie mir helfen?

Der mutige Schatten tritt näher, ein kleinerer folgt ihm, langsamer. Ein blendendes Licht leuchtet auf, grell brennt es sich in meine Augen, ich muss sie gequält schließen, Tränen wollen hervorbrechen.

Sie haben mich entdeckt, ich merke es daran, wie die Schritte verstummen, die Stimmen aufgeregter werden. Immer noch kann ich nicht verstehen, was sie sagen.

Verschmutze Kleidung, Tränenspuren auf den Wangen, ich bin wahrlich kein schöner Anblick. Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden plötzlich wieder umkehren würden, als wäre nie etwas passiert, als hätten sie nie etwas hier unten gesehen.

Alles, was ich wahrnehme, sind die Stimmen um mich herum, die Stimmen und die Dunkelheit, die durch die Taschenlampe einen Riss bekommen hat. Das Atmen fällt mir schwer, auf einmal ist die Kälte um mich herum verschwunden, Licht dringt durch meine geschlossenen Augenlider.

Als ich sie öffne, stehen wir außerhalb des Kellers, in einem Flur, hell, so wunderbar hell beleuchtet.

Er ist vor mir, die gleichen Locken auf dem Kopf wie Leyan, das gleiche vorsichtige Lächeln, und doch sind sie so anders. Meine zitternden Hände liegen in seinen, er wärmt sie, tröstet mich.

»Hey, es wird alles gut, okay?« Besorgte blaue Augen mustern mich. Meine Erinnerung ist verschwommen, auf einmal sind sie grau. »Ich bin Zavier. Ich werde dir helfen. Vertraust du mir?«

Ich habe keine Wahl, er bietet mir das Licht an, nachdem ich tagelang der Dunkelheit ausgesetzt war. »Ich vertraue dir.«

Die Szene wandelt sich, er reißt die Augen auf, den Mund. Blut benetzt meine Hände, klebt an meiner Kleidung. Es benetzt meinen Mund, rinnt meine Kehle hinab, verklebt meine Lunge. Und vor mir liegt er. Zavier. Der Junge, der mir half, der mir Vertrauen schenkte, mir die Sonne schenkte.

Und der dadurch starb.

Ich wache auf. Ich wache einfach auf, verschwitzt, außer Atem, in Leyans Armen, der mich besorgt mustert. Zavier wird nie wieder aufwachen.

Tränen schießen in meine Augen, fühlen sich schon viel zu vertraut an. Bei meinem ersten Schluchzen zieht Leyan mich an sich. Meine Hände krallen sich in sein Oberteil, mein Gesicht drückt sich gegen seinen Hals.

Gemeinsam weinen wir, leise, nur für uns. Wir teilen die Trauer, es hilft so sehr zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Emmy schläft bei ihrer Freundin, da hat Leyan sie auch am vorigen Tag hingeschickt. Nur Mélisande ist hier, schlafend in einem anderen Raum.

»Er ist tot. Wie kann er tot sein? Wäre ich nicht gewesen, wäre er jetzt noch hier.« Es ist das erste Mal, dass ich mir die Schuld gebe, ganz alleine mir.

»Sag das nicht, Engel.« Gebrochen dringt seine Stimme an mein Ohr. »Ich habe mich jahrelang schuldig gefühlt. Hätte ich die Polizei gerufen, häte ich meinen Vater auf irgendeine Weise aufgehalten ... Vielleicht wäre das alles nie passiert. Es tut dir nicht gut, Engel. Es zerstört dich.«

Er greift nach meiner Hand, legt meine Finger auf seine Narben. Es ist so dunkel, ich erkenne kaum seine Silhouette, von seinen Gesichtszügen ganz zu schweigen. Nur seine Haut an meiner, die Wärme, die wir teilen.

»Der Einzige, der Schuld an ... an seinem Tod trägt, ist mein Vater. Verstanden? Nicht du, nicht ich. Nur er.«

Er hält mich fest, bis wir uns wieder beruhigt haben. Einzig und allein unser beider Atmen und das Rascheln der Bettdecke durchbrechen die Stille, die uns umhüllt.

»Wenn du willst, erzähl mir von deinem Traum«, bietet Leyan vorsichtig an.

»Hast du es je getan, Ley?« Ich versuche seine Gesichtszüge zu erkennen, aber die Dunkelheit hüllt alles ein, verschließt es vor meinem Auge.

Er antwortet nicht, dreht den Kopf zur Seite, ein tiefes Seufzen verlässt seinen Mund. Seine Hand umschließt meine fester. »Können wir wieder schlafen gehen? Ich ... Vielleicht sollten wir einfach morgen weiter reden.«

»Vielleicht sollten wir das.« Ein schmales Lächeln erscheint auf meinem Gesicht, als ich mich zu ihm vorbeuge, meine Lippen für einen kurzen, kostbaren Moment seine Wange berühren. Ein Seufzen entflieht ihm, er legt den Kopf in den Nacken, genießt den Nachhall der Liebkosung.

Erst da wird mir klar, wie wenig Liebe er in seinem Leben bis jetzt erfahren hatte. Ein Vater, der seinen Bruder ermordet hat, eine Mutter, die ihn kaum beachtet, eine Schwester, der er all seine Liebe schenkt.

»Bon nuit«, flüstere ich, einfach so.

»Französisch«, flüstert er zurück, mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Französisch.« Nur eine Repetition, nur ein Wort, doch auch ich lächle jetzt. Seine Arme umschließen meinen Körper, er hält mich fest an sich. Er braucht mich, für diese Nacht, für die nächste Zeit, um die Lücke in seinem Herzen wieder zu schließen.

»Bon nuit.«

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das letzte kapitel, das ich fertig geschrieben habe. das nächste wäre eigentlich noch nicht zu ende, aber ihr bekommt es trotzdem nächste woche. und dann war's das mit absturznächte (:

tut mir leid. ich hoffe, ihr bleibt mir trotzdem treu, auch wenn dieses buch nicht beendet wird

und eine letzte frage: was war das letzte lied, das ihr angehört habt?

<3

Absturznächte [abgebrochen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt