. . . ist die erste scherbe,

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20. September 2011

Isaac,

mittlerweile kann ich nachts nicht mehr einschlafen. Wenn ich meine Augen auch nur für einen kurzen Augenblick schließe, werde ich von dir heimgesucht. Aber es sind nicht die schönen Momente mit dir, die mir den Schlaf rauben, sondern jene, die wir beide zu verdrängen versuchen. Sie zerreißen mich jedes Mal aufs Neue und inzwischen kann ich sie nicht mehr abschütteln.

Weißt du, wovon ich spreche, Isaac? Genau, ich meine die winzigen, unsichtbaren Narben, die du in meine Seele eingraviert hast, wenn dir einmal etwas nicht gepasst hat und du die Beherrschung verloren hast. Ich meine die überflüssigen Streitereien, weil du manchmal gewisse Dinge, die nicht belangloser sein könnten, persönlich genommen und mit Gläsern um dich geworfen hast. Ich meine die Lügen, die du mir erzählt hast, weil du die Wahrheit, vor der wir uns beide verstecken, ändern wolltest.

Für dich sind diese Dinge immer nur Kleinigkeiten gewesen. Aber weißt du was, Isaac? Solche Kleinigkeiten bereiten mir die meisten Schmerzen.

Wenn ein Glas zerbricht, sollten wir uns nicht vor den großen Scherben in Acht nehmen, sondern vor den winzigen, weil man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann. Und irgendwann schneidet man sich an diesen Scherben, weil man vergessen hat, dass einst an dieser Stelle ein Glas zerbrochen ist. Diese Scherben bohren sich erbarmungslos tief hinein. Man spürt zwar den intensiven Schmerz, aber man weiß nicht, dass man sich geschnitten hat. Man sieht sich die blutende Stelle an, um zu sehen, was einem solche höllischen Schmerzen bereitet, aber man kann nichts erhaschen. Der Schmerz hält weiterhin an und man beginnt zu verzweifeln, weil man nicht weiß, woher er kommt.

So ist es auch mit dem Herzen. Die kleinsten Splitter, von deren Existenz wir nicht einmal wissen, tun am meisten weh. Es sind die Kleinigkeiten, aber meistens sind diese Kleinigkeiten am wichtigsten.

In Liebe,
Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt