. . . ist die farblosigkeit,

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25. September 2011

Isaac,

das nächste Semester naht und ich kann mich nicht dazu aufraffen, mich für die Uni vorzubereiten, gar auf den Lernstoff zu konzentrieren, wenn ich jede Sekunde an deiner Seite sein will, für den Fall, dass du aufwachst. Meine Gedanken kreisen vierundzwanzig Stunden am Tag nur um dich.

Ich denke zu viel über dich nach. Das mache ich eigentlich seit unserer ersten Begegnung. Ich kann nicht erklären, weshalb, denn besonders auffällig bist du damals nicht gewesen. Deine Hände tief in die Taschen deiner Weste verstaut hast du vom unteren Stockwerk aus zu mir hinaufgeschaut, ohne auch nur ein Hauch von Emotion zu zeigen. Nicht einmal ein wenig Irritation hat sich auf deinem Gesicht abgezeichnet, nachdem ich so wütend aus der Praxis des Glatzkopfs gestürmt bin. Desinteressierter hätte deine Haltung nicht sein können.

Aber vielleicht haben mich deine stürmisch grauen Augen so sehr verzaubert, dass ich nicht mehr aufhören konnte, dich aus meinen Gedanken zu verbannen. In ihnen habe ich Freiheit und Lebensfreude erkannt - etwas, das man in meinen schon lange nicht mehr finden konnte. In deinen grauen Augen, die jedoch kein stumpfes, unauffälliges Grau wie das von Beton oder Stein sind. Sie sind das Grau der Asche eines nachgelassenen Feuers, das Grau eines Taubenflügels, das Grau des Ozeans kurz vor der ersten Sonnenstrahlung, die im Wasser einschlagen. Jedes Detail in deiner Iris ist so klar, so prägnant. Ich hatte schon damals Probleme, deine Augenfarbe genauer zu auszumachen. Man müsste meinen, einer Kunststudentin, die seit ihrer Kindheit mit den verschiedensten Farbtönen spielt, sollte das nicht so schwerfallen. Dennoch tut es.

Weil es deine sind.

Im Grunde bestehen Farben aus vielen einzelnen Farben. Während die hellste Farbe einen dunkleren Ton in sich hat, besitzt auch die dunkle Farbe einen Hauch von Helligkeit. So wie auch das Leben, das in den unterschiedlichsten Farbnuancen getunkt ist, die mit der Zeit langsam verblassen.

Meine sind schon lange verblasst. Das Leben besteht für mich nur aus etlichen Grautönen, eine dunkler als die andere. Doch als du in mein Leben getreten bist, hast du mit dem Pinsel, der in zahlreichen, glanzvollen Farben getunkt war, diesem einen neuen Anstrich verpasst. Zu diesem Augenblick habe ich gewusst, dass ich niemals wollen würde, dass du mein Leben verlässt, dass diese Farben, die du mit dir gebracht hast, wasserfest sind.

Doch das sind sie nicht.

Das wunderschöne Bild, das du mir gemalt hast, hat sich in den hellen Sonnenstrahlen ergötzt. Doch es hat nicht lange gedauert, bis der erste Regen gekommen ist. Das Bild hat begonnen, zu verschwimmen, mit ihm auch die zahlreichen Farben. Nun sind noch die Umrisse zu erkennen.

Und ich frage mich, ob du aus diesen Umrissen ein neues Bild für uns malen kannst?

In Liebe,
Deine Vanda

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