. . . ist die einsamkeit,

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31. Dezember 2011

Isaac,

dieses Jahr ist das Weihnachtsfest ein Desaster gewesen. Naja, eigentlich nur für mich, weil du nicht hier gewesen bist und meine Hand gehalten hast. Es ist erstaunlich, wie sehr das Fehlen einer bestimmten Person die Stimmung beeinträchtigen kann.

Ich bin in einer Ecke gesessen, und habe alle Anwesenden angestarrt - meine Eltern, meinen Bruder, meine Schwägerin und meinen Neffen. Sie haben ein glückliches Lächeln auf ihren Lippen getragen, während sie sich gegenseitig beschenkt und nach dem Essen zu der Weihnachtsmusik getanzt haben.

Augenblicklich habe ich an das letzte Weihnachten gedacht, als wir auf meinem Bett gesessen sind und unsere Geschenke ausgetauscht haben. Du hast mir Karten für eine spezielle Ausstellung von Claude Monets Werken geschenkt, weil er mein Lieblingskünstler ist. Dein Geschenk hat mir unendlich viel bedeutet, dass ich meinen Tränen ihren freien Lauf gelassen habe und dir um den Hals gefallen bin.

Auch du bist über mein Geschenk glücklich gewesen. Ich habe dir ein Poesiewerk geschenkt, das ich bei einem Antiquitätengeschäft gefunden habe. Es hat «amor vincit omnia» geheißen und wurde von einem italienischen Autor namens Aries verfasst. Der Händler hat mir erzählt, dass es ein Originalexemplar gewesen ist, weswegen ich es sofort gekauft habe. Du hast solche seltenen Fassungen geliebt. Als du mir das erste Mal erzählt hast, wie sehr du es liebst, Poesie zu lesen, bin ich überrascht gewesen - sehr überrascht sogar, was dich zunächst irritiert hat. Du hast auf mich nicht wie ein Typ gewirkt, der Liebe und eine Ader für Poesie besessen hat, was dich umso liebenswerter gemacht hat. Ich habe es geliebt, deiner Stimme zu lauschen, wenn du mir einen Textausschnitt vorgelesen oder etwas Eigenes gezaubert hast. Das Gedicht, das du mir geschrieben hast, geht mir bis heute noch unter die Haut, weil du mich in deinen Worten festgehalten hast wie ich dich in meiner Kunst. Wir haben uns ergänzt.

Bis wir wie dein Buch auseinandergefallen sind. Bis wir uns wie meine Farben aufgelöst haben.

Dieses Jahr habe ich keine Geschenke erhalten, die eine besondere Bedeutung für mich hatten. Um meine Familie nicht zu verletzen, habe ich ein Lächeln vorgetäuscht. Das einzige Geschenk, das das Weihnachtsfest jedoch nicht ganz so miserabel gemacht hat, ist die Zeichnung meines Neffen gewesen. Er hat seine Eltern, Großeltern, sich selbst und mich mit dir gezeichnet. Die Zeichnung eines Kindes genau zu deuten ist eine schwere Angelegenheit, aber ich glaube, er hat unsere Hände ineinander verschränkt dargestellt. Ich habe mir auf die Unterlippe gebissen, um nicht sofort loszuheulen. Trotzdem hat es eine Träne geschafft, über meine Wange zu rollen, als er mich gefragt hat, wieso du nicht hier gewesen bist. Umarmend habe ich ihm erzählt, dass du etwas zu erledigen hättest, bevor ich ins Zimmer gerannt bin und die ganze Nacht durchgeweint habe. Die Zeichnung hat mich realisieren lassen, dass die Dinge zwischen uns nie wieder so sein werden, wie sie einst gewesen sind, denn ich habe nicht vor, erneut nach deiner Hand zu greifen.

Nun sitze ich mit einem Champagnerglas auf dem Dach eines unbekannten Gebäudes und betrachte die Raketen, die in den unterschiedlichsten Farben am Himmel explodieren. In zehn Minuten wird das neue Jahr beginnen und ich kann nicht anders, als in unseren Erinnerungen zu schwelgen. Heute vor einem Jahr sind wir selbst in die Stadt gefahren, haben Raketen in die Luft geschossen und uns zwischen den Küssen gegenseitig versprochen, weitere Silvester zu feiern. Schätze, daraus ist nichts geworden, was?

Denn nun bist du nicht hier und wirst mir keinen Neujahrskuss geben können, wenn die Uhr Mitternacht schlägt.

Aber das Schlimmste an diesem Silvester ist, dass ich weder die Kraft noch die Lust besitze, ein weiteres Jahr zu überleben.

In Liebe,
Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt