. . . ist die zweite scherbe,

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17. Oktober 2011

Isaac,

du hast mir nie vertraut.

Obwohl mich diese Tatsache immer belastet hat und es nach wie vor tut, habe ich nie den Mut aufgebracht, dich zu fragen, was deine Vertrauensprobleme verursacht hat. Bis heute weiß ich nicht, was mich davon abgehalten hat. Du hast gemeint, dass du von allen Menschen in deinem Leben mir am meisten vertraust. Ich habe diese Lüge jedes Mal hingenommen und meine Lippen zu einem Lächeln verzogen, in der Hoffnung, dass du dich irgendwann vollständig öffnen würdest.

Ich habe dir mein Herz geöffnet und dir alles erzählt, von meinen Dämonen, meinen dunkelsten Geheimnissen, den grauen Farbtönen, jedem so unwichtigen Detail in meinem Leben, jedem noch so kleinen Gedankenzug. Der Gedanke, dir etwas zu verheimlichen, hat mich in den Wahnsinn getrieben. Ich wollte, dass du alles über mich weißt, aber nicht nur aus dem Grund, weil ich dir vertraue, sondern auch um dir zu zeigen, dass es okay ist, sich manchmal fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass dich jemand auffangen wird. Ich wollte dieser Jemand für dich sein. Ich habe meine Hände ausgestreckt und auf deinen Fall gewartet, aber du hast es nicht über dich gebracht, weil du gedacht hast, niemand würde da sein, nicht einmal ich würde da sein. Aber ich, Isaac, ich habe dir versprochen, mit dir durch Himmel und Hölle zu gehen. Hat dir dieses Versprechen nicht gereicht?

Wieso vertraust du mir nicht? Ist es wegen Maya?

Ja, Isaac, ich weiß über Maya Bescheid. Deine Schwester hat es mir erzählt. Vor einigen Monaten habe ich dich zu Hause aufgesucht, weil ich dich nicht erreichen konnte, aber als ich angekommen bin, bist du nicht dagewesen. Ich habe mich entschieden, in deinem Zimmer zu warten und habe mich währenddessen umgeschaut, als ich eine blaue Schachtel gefunden habe. Die Fotos haben mir einen kleinen Stich ins Herz versetzt. Du hast so unendlich glücklich ausgesehen, während du sie in deinen Armen gehalten hast. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich diesen zufriedenen Gesichtsausdruck an dir während unserer Beziehung je gesehen habe. Die Traurigkeit hat nie deine Augen verlassen, selbst als du breit gegrinst hast.

Deine Schwester hat mich weinend gefunden. Sie musste wohl an meinem Gesichtsausdruck erkennt haben, dass ich nichts über das Mädchen auf den Fotos gewusst habe. Am Anfang hat sie sich gesträubt, mir von Maya zu erzählen, weil die Sache mit ihr dich immer noch belastet. Als ich ihr versprochen habe, dass ich kein Sterbenswörtchen erwähnen würde, hat sie sich geöffnet. Sie hat mir alles erzählt; dass Maya und du seit eurer Kindheit beste Freunde gewesen seid bis ihr eine Beziehung in der Schule eingegangen seid. Ihr wolltet nach der Schule zusammenziehen, aber daraus ist nichts geworden, weil Maya gestorben ist.

Du bist nach eurem Abschlussball betrunken Auto gefahren. Du hast den Unfall überlebt, aber Maya nicht. Die Schuldgefühle haben dich innerlich getötet und du wurdest für ein Jahr in eine Klinik eingewiesen.

Ist dir aufgefallen, dass ich aufgehört habe, dich zu fragen, wo du dich nachts herumtreibst? Du bist auf dem Friedhof, stimmt's? Du hast sie nicht vergessen, obwohl seit ihrem Tod drei Jahre vergangen sind.

Seit dem Tag warte ich, dass du mir von Maya und dem Unfall erzählst, aber schau mal, wo wir jetzt sind. Ich sitze neben dem Krankenbett und halte deine kühle Hand, während ich beginne, an der Wahrhaftigkeit deiner Worte zu zweifeln. Hast du mir jemals die Wahrheit erzählt oder ist alles immer nur eine Lüge gewesen, weil du mir nicht vertrauen konntest?

Oder konntest du dir nicht selbst vertrauen?

Ich weiß, dass etliche Narben deine Seele zieren, aber wenn du dich fallen gelassen hättest, Isaac, dann wäre ich da gewesen, um dich aufzufangen und deine alten Scherben zusammenzufügen.

Aber am Ende haben deine Scherben uns in den Ruin getrieben.

In Liebe,
Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt