. . . ist die leere,

1.3K 189 9
                                    

19. Oktober 2011

Isaac,

in letzter Zeit gehe ich öfters spazieren. Es ist zu einer Art Hobby geworden; ein recht seltsames Hobby, oder? Aber die Spaziergänge tun mir gut. Sie beruhigen mich; in der Früh aufzustehen und einige Stunden durch die Gegend zu gehen, während die Eiseskälte des kommenden Winters mich umhüllt. Es ist die perfekte Flucht aus dem miesen Alltag.

Ich komme dazu, etwas Anderes zu tun, als zu Hause traurig herumzusitzen. Selbst meine Mutter ist genervt, mich die ganze Zeit daheim zu sehen, weil ich nicht mehr zu den Vorlesungen gehe. Wie soll ich den Professoren zuhören, wenn ein unerträgliches Chaos in meinem Kopf tobt und meine Konzentration zum Sinken bringt?

Apropos Chaos, letztens bin ich auf ein interessantes Zitat gestoßen, nämlich dass die Aufgabe von Kunst sei, das Chaos in Ordnung zu bringen. Aber warum scheine ich die Einzige zu sein, die nicht imstande dazu ist? Ich habe seit deinem Unfall den Pinsel nicht mehr zu Hand genommen, nicht einmal meinen Lieblingspinsel, den du mir zu meinem Geburtstag geschenkt hast. Jeden Tag sitze ich vor der weißen Leinwand, aber alles, was ich tue, ist es, sie anzustarren, als würde ich nicht wissen, was ich mit ihr anstellen sollte. Mich inspiriert nichts mehr.

Vielleicht, weil du meine größte Inspirationsquelle gewesen bist, Isaac. Immerhin hat es in meinem Kopf nur so von Ideen gewimmelt, als du bei mir gewesen bist. Doch egal, wie viele Bildnisse ich bisher gemalt habe, das schönste Kunstwerk bist du gewesen, Isaac. Ich habe oft von menschlichen Kunstwerken gehört, aber geglaubt habe ich es nie, bis meine Augen dich getroffen haben. Ich könnte dich stundenlang ansehen und dich beobachten, ich würde in kein Kunstmuseum mehr gehen müssen, weil ich mit dir das schönste Kunstwerk gefunden habe. Und die Wahrheit ist, egal wie oft ich versuchen würde, dich zu Papier zu bringen, ich würde es nie schaffen, dich mit deinen perfekten Imperfektionen darzustellen.

Aber an der Kunst empfinde ich momentan kein Gefallen, weswegen die Spaziergänge mir helfen, die Zeit zu vertreiben, was ich wirklich genieße.

Außer der Tatsache, dass solche Spaziergänge das perfekte Timing fürs Nachdenken sind, was nicht immer eine gute Idee ist. Nachdenken würde ich am liebsten nicht, denn wenn ich mich in meinen Gedanken verliere, tauchen Erinnerungen auf, die mit dir verbunden sind. Als hätte ich schon nicht genug Fragmente von uns in meinem Kopf eingraviert, erscheinen immer wieder andere Momente.

Als ich heute Morgen für einen erneuten Spaziergang meine Jacke, den blauen Schal, den du mir letzten Winter gekauft hast, anzogen und die Kopfhörer aufgesetzt habe, sind meine Gedanken - wie nicht anders zu erwarten - zu dir gewandert. Irgendwie schweifen sie immer am Ende zu dir, Isaac.

Ich musste an einen herbstlichen Tag letzten Jahres denken, als wir nach einem Besuch in unserem Lieblingscafé zum See gefahren sind. Wir sind stundenlang am Steg gesessen und haben das leblose Wasser angestarrt, während wir herumgealbert haben, bis dir eine bescheuerte Idee gekommen ist und du mich ins kalte Wasser geworfen hast. Ich bin so dermaßen wütend auf dich geworden, aber meine Wut hat nicht lange angedauert, als du selbst gesprungen bist. An diesem Tag habe ich gelacht, wahnsinnig viel gelacht, dass ich für einen Moment diesen Hoffnungsschimmer hatte, dass das Leben mit der richtigen Person an der Seite gar nicht so beschissen ist.

Ich vermisse solche Momente, Isaac. Diese Moment, in denen ich es wage, meine Komfortzone zu verlassen und etwas Verrücktes anzustellen. Du bist der perfekte Mensch gewesen, weil du mir den Mut dafür gegeben hast.

In Liebe,
Deine Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt