30. November 2011
Isaac,
ich bin heute zu deinem Apartment gefahren, um dir näher zu sein, weil ich dich vermisst habe. Obwohl heute kein besonderer Tag ist, fehlst du mir heute sehr.
Als ich die Tür geöffnet habe, haben mich die Kälte und Leere an diesem sonnigen Tag begrüßt. Obwohl du seit zwei Jahren in dieser Wohnung lebst, besitzt sie nichts von dir. Keine Fotos, keine Farben, keine Blumen. Sie schildert das, was du fühlst - Taubheit.
In deinem Schlafzimmer habe ich auf dem Bett die Spritze gefunden. Sie ist noch halb voll gewesen. Wenn ich dich in der Nacht deines Autounfalls nicht angerufen hätte, hättest du wahrscheinlich die ganze Menge gespritzt, stimmt's? Ich habe die Spritze in die Hand genommen und sie angestarrt, weil ich erwartet habe, dass sie mir eine Antwort gibt. Sie sollte mir sagen, was dich rückfällig gemacht hat, wie sie dich erneut in die Versuchung gelockt hat, dass du ihr nicht widerstehen konntest, aber vor allem, wie deine Liebe zu ihr stärker sein konnte als meine.
Aber dann ist mir etwas aufgefallen. Ich habe gedacht, dass du meine Droge bist, aber eigentlich bin ich deine Droge gewesen. Eine Zeit lang hast du mich wie diese Spritze behandelt; du hast mich in deine Vene gespritzt, wann auch immer du mich gebraucht hast. Als deine Lippen anfangs vorsichtig auf meine getroffen sind, hast du einen kurzen Geschmack des Rausches bekommen. Doch dieser Geschmack musste wohl so intensiv gewesen sein, dass du mich nicht mehr loslassen konntest. Du bist süchtig geworden.
Ich wurde zu deinem Heroin und du hast mich geliebt, bis meine Wirkung sich durch deinen Körper durchgearbeitet hat und du nichts mehr gefühlt hast. Und das ist das Problem mit Drogen, Isaac. Nach dem ersten Rausch braucht man immer mehr und mehr, in der Hoffnung, dieses Gefühl noch einmal zu erleben.
Allerdings hast du es nicht geschafft, diesen Moment erneut zu erleben, obwohl du dich oft mit mir berauscht hast, aber es hat dir nicht gereicht, weswegen du zu neuen Drogen übergegangen bist, weil ich keinen Effekt mehr auf dich hatte. Ich wurde für dich zu herkömmlich, zu langweilig, und vor allem zu leicht zu ersetzen.
Weißt du, Isaac, eigentlich bin auch ich sehr süchtig, aber zwischen unseren Süchten liegen Welten. Ich bin süchtig nach deinem Lächeln, weil ich deine Grübchen liebe, deinen Augen, weil das Graue in ihnen mich fasziniert und meine Lieblingsfarbe ist, nach deinen Küssen, weil sie berauschend sind, nach deinem Duft, weil er besonders ist, und nach deiner Stimme, weil nur sie mich beruhigen kann. Ich bin süchtig nach dir.
Aber die Wahrheit ist, dass Sucht uns zerstört. Jede Form der Sucht ruiniert uns, selbst die Sucht nach der Liebe kann uns in den Tod treiben. Ist das nicht traurig, Isaac, dass selbst die Liebe uns vernichten kann? Dabei liest man doch in den Büchern, wie wunderschön sie ist und uns retten, gar stärken, kann. Gut zu wissen, dass diese Autoren eine Illusion erschaffen, nach der wir uns unser Leben lang sehnen, nur um dann bitter enttäuscht zu werden.
Ich habe gedacht, ich würde den ganzen Tag in deinem Apartment verbringen und mich in deine Decke, die nach wie vor nach dir duftet, einhüllen, aber ich habe es dort nicht einmal eine Stunde ausgehalten. Ich wollte dir nahe sein, aber im Endeffekt habe ich das Gefühl, mich von dir noch mehr distanziert zu haben.
Die Wohnung hat mich erstickt, mir die Luft zum Atmen genommen, wie unsere Beziehung auch.
In Liebe,
Vanda
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Was Uns Bleibt
Short Story❝Alles, was uns bleibt, sind die Scherben unserer schmerzvollen Erinnerungen, Isaac.❞ Als Cinderella ihren Prinz Charming um Mitternacht verließ, fand er sie dank einer ihrer gläsernen Schuhe wieder. Als Vanda ihren Freund, Isaac, um Mitternacht ver...