. . . ist die letzte scherbe.

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23. Februar 2012

Isaac,

mein Zug kommt um Mitternacht. Ich habe noch etwas mehr als eine Stunde Zeit, um diesen letzten Brief zu verfassen. Als ich begonnen habe, diese Briefe zu schreiben, habe ich nicht gedacht, dass ich sie dir hinterlassen würde, denn eigentlich habe ich nur ein Mittel gebraucht, um meine Wut und Trauer herauszulassen, damit sie sich nicht innerlich anstauen und mich auffressen, wie es die Probleme unserer Beziehung getan haben.

Wahrscheinlich hast du diese Briefe mit einem „Was zum Teufel?" geöffnet, während deine dichten Augenbrauen sich argwöhnisch und irritiert zugleich zusammengezogen haben und du dir auf die Innenseite deiner Lippe gebissen hast, denn eigentlich hast du erwartet, dass ich an deiner Seite bin, sobald du deine Augen öffnest und nicht ein ellenlanger Stapel an Briefen, mit denen du gedacht hast, nichts anfangen zu können.

Ich habe in den vergangenen Monaten viel nachgedacht - über uns, unsere Beziehung, unsere wundervollen Momente, aber vor allem über jene Dinge, die zwischen uns schief gegangen sind und uns nun zum ultimativen Fall geführt haben.

Eines dieser Dinge ist deine Eifersucht gewesen. Am Anfang hat mir deine Eifersucht gefallen, weil ich sie als ein Beweis deiner Liebe angesehen habe, aber mit der Zeit hat sie sich drastisch verändert. Sie ist zu einem Monster geworden, das einen Keil zwischen uns getrieben hat. Du konntest es nicht ausstehen, wenn ich mit einem anderen Jungen nur einige Worte gewechselt habe. Du hast mir unterstellt, dass ich mit ihm geflirtet hätte und hinter deinem Rücken eine Affäre führen würde. Du hast mir nicht geglaubt, als ich all deine Vorwürfe widerlegt habe. Meine Antworten haben dir nie gereicht, weswegen du immer wieder zu Schlägen ausgeholt hast.

Deine Eifersucht hat dich krank gemacht. Aber ich habe nicht gewusst, dass das alles erst die Spitze des Eisbergs gewesen ist. Dein Verhalten hat sich verschlimmert, als ich mit Miles, einem Kommilitonen, an einem Kunstprojekt zusammenarbeiten musste. Weil ich deine Reaktion erahnen konnte, habe ich es zunächst vor dir geheim gehalten, aber du hast es schließlich selbst herausgefunden, was mich bis heute noch wundert. Als du mich zur Rede gestellt hast, habe ich dir alles erklärt, aber meine Erklärung hat dich nicht zufriedengestellt - sowie je und immer. Du hast nicht nur mir, sondern auch Miles gedroht. Deine Wut auf mich konnte ich verstehen und aushalten, aber dein Verhalten gegenüber Miles hat gewisse Befürchtungen in mir hervorgerufen.

Ich habe mich für das Projekt ein weiteres Mal mit ihm getroffen, aber dieses Mal habe ich dir von dem Treffen erzählt, was sich später als ein Fehler herausgestellt hat. Miles ist zu diesem Treffen nicht aufgetaucht. Weil mich die Panik sofort ergriffen hat, habe ich ihn angerufen, aber statt ihm hat seine Mutter geantwortet, dass er sich im Krankenhaus befinden würde, weil ihn jemand beinahe zu Tode verprügelt hätte. Ich musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass du für seinen Zustand verantwortlich gewesen bist.

Am Abend deines Autounfalls habe ich dich aus diesem Grund angerufen. Ich habe in jener Nacht den Mut aufgebracht, um mich der bitteren Realität zwischen uns zu stellen, aber du hattest andere Pläne und liegst nun in einem kalten Krankenbett, ohne ein Zeichen auf eine Rückkehr.

Vor einer Woche habe ich Miles besucht, weil ich ihm eine Entschuldigung schuldig gewesen bin, denn der Grund für deine Attacke auf ihn bin ich gewesen. In seinen Augen habe ich blanke Angst gesehen. Es ist die Angst gewesen, die ich seit einer Weile in deiner Nähe verspürt habe und mir den Hals zugeschnürt hat.

Und nun möchte ich mich von dieser Angst befreien. Ich möchte mich von dir befreien, und aus diesem Grund muss ich gehen.

Unsere Geschichte nimmt hier kein trauriges Ende; auch endet sie nicht glücklich. Sie hat auch keine tragische Wendung. Unsere Geschichte endet nie, denn wir haben unsere Seelen dem Teufel verkauft - der Liebe.

Diese Liebe hat uns in den Brand gesetzt, uns auseinandergerissen und versucht, uns wieder zu reparieren, aber letztendlich hat sie es nicht geschafft, uns zu befreien.

Ich habe mein Leben lang von allen Arten von Liebe gehört; die unerwiderte Liebe, die unschuldige Liebe, die Liebe, die alle Hindernisse des Lebens überwinden kann, die Liebe, die nicht sein sollte, die Liebe, die sich falsch, aber auch gleichzeitig richtig anfühlt. Ich habe gehofft, irgendwann auf eine dieser Lieben zu begegnen.

Doch ich bin auf eine Liebe gestoßen, auf die ich nicht vorbereitet wurde - die toxische Liebe. Ich durfte die Liebe kennenlernen, die mich zur Gänze verschluckt und mich von innen verbrannt hat; jene Liebe, die meine Seele verzehrt und mich nicht mehr freigelassen hat; jene Liebe, die für mich zu einer Sucht geworden ist, aus der ich mich nicht entziehen konnte. Jeder Tag ist für uns ein Kampf gewesen, entweder haben wir Seite an Seite oder gegeneinander gekämpft, aber am Ende des Tages hat niemand von uns gewonnen. Was übriggeblieben ist, sind zwei erschöpfte Seelen, die sich gegenseitig in den Armen gehalten haben.

Ich habe versucht, unsere Liebe in Bildern festzuhalten. Ich erinnere mich, dass ich nächtelang vor der Leinwand gesessen bin und versucht habe, etwas zu malen, das unsere Liebe darstellen könnte, aber am Ende bin ich immer vor einer leeren Leinwand gesessen, denn unsere Liebe kann man nicht einfach durch Bilder schildern.

Unsere Liebe ist die Büchse der Pandora gewesen. Unsere Liebe ist das stechende Gefühl gewesen, wenn der Wind im Winter auf unsere Haut trifft, sodass wir zu zittern beginnen und uns nach Wärme sehnen. Unsere Liebe ist der Geschmack von penetrantem Alkohol und ätzendem Kaffee um zwei Uhr morgens gewesen, wenn die Nebeln der Nacht die Hoffnungslosigkeit des Universums hervorgerufen haben. Unsere Liebe ist fesselnd, elektrisierend, berauschend, aber vor allem erbarmungslos gewesen. Sie ist unendlich, felsenfest und tragisch schön auf der schlimmsten Art und Weise gewesen. Unsere Liebe ist alles gewesen, was eine Liebe nicht sein sollte.

Wir haben ein Gefängnis mit unserer Liebe erschaffen, aus dem ich nun fliehen will. Ich weiß, dass ich dich in diesem Zustand nicht zurücklassen sollte, aber das erste Mal in meinem Leben möchte ich egoistisch sein und etwas für mich tun. Ich möchte mich nicht mehr aufgeben. Ich möchte meine Dämonen vernichten. Ich möchte die Grautöne meines Lebens durch Farben ersetzen. Ich möchte endlich leben, und nicht mehr überleben, weil ich es jemanden schuldig bin.

Aber das alles muss ich ohne dich tun.

Mein Zug ist da. Ich gehe, Isaac. Ich gehe mit unseren Erinnerungen. Ich hoffe, dass dir diese zwanzig Briefe mit zwanzig Fragmenten unserer gemeinsamen Zeit erklärt haben, warum nicht ich an deiner Seite bin, sondern meine Schriftstücke. Ich hoffe, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe und dass ein Teil meines Herzens immer für dich schlagen wird.

Aber Zeit ist vergänglich und so sind wir es auch.

In Liebe,
Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt