. . . sind die dornen,

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23. Oktober 2011

Isaac,

ich habe heute mein Zimmer aufgeräumt; richtig aufgeräumt. Ich habe meine alten Gemälde in den Keller gestellt, meine Kleidungsstücke geordnet, meine Notizbücher sortiert. Als ich dabei gewesen bin, die Schubladen auszuräumen, habe ich die blaue Schachtel gefunden. Ich habe gedacht, ich hätte sie aus Wut nach unserem letzten Streit weggeschmissen, aber anscheinend habe ich das nicht gemacht, was mich jetzt sehr erleichtert. In der Schachtel ist dein Brief mit der verwelkten Rose gelegen.

Obwohl ich den Brief schon etliche Male gelesen habe und den Inhalt in- und auswendig kenne, konnte ich mich nicht aufhalten, ihn ein weiteres Mal zu lesen und durch die Zeilen zu fahren, weil ich den abstrusen Gedanken hatte, dir dadurch näher sein zu können. Er bedeutet mir so unendlich viel, weil du dich entschuldigt hast, nachdem unser Streit außer Kontrolle geraten und meine Wange mit deiner Hand auf einer schmerzhaften Weise in Berührung gekommen ist. Als ich auf deine Anrufe, Nachrichten und Besuche nicht reagiert habe, hast du mir den Brief geschrieben; deinen ersten und wahrscheinlich letzten. Du hast jedes Wort sorgfältig ausgewählt, dir Gedanken über dein Fehlverhalten gemacht und dich lang und ausgiebig entschuldigt.

Ich erinnere mich, als ich den Brief das erste Mal gelesen habe, in Tränen ausgebrochen bin, weil ich dich nicht verstanden habe, Isaac, und ich tue es bis heute nicht. Du hast oft die Hand erhoben und jedes Mal hast du dich entschuldigt und mich angefleht, dich nicht zu verlassen, weil du nicht alleine sein wolltest. Wieso hast du diesen Fehler dann so oft wiederholt, Isaac? Wieso bist du in den vergangenen Monaten zugedröhnt und betrunken nach Hause gekommen und hast dich gestritten, obwohl es keinen Grund dafür gegeben hat? Was ist aus deinen Entschuldigungen geworden? Hast du sie mit dem Alkohol hinuntergespült?

Nichtsdestotrotz habe ich dir verziehen und ich werde dir immer verzeihen, weil ich dich liebe. Aber manchmal tut es so weh, dich zu lieben. Manchmal tut es so weh, dass ich mir eine Krankheit mit einem stärkeren Schmerz wünsche, der mich von deinen Schmerzen ablenken kann. Manchmal tut es so weh, dass meine Brust sich zusammenzieht und ich weinen will, aber die Tränen wollen meine Augen nicht verlassen. Manchmal tut es so weh, dass ich das Gefühl habe, nie wieder mehr richtig atmen zu können.

Und manchmal wundere ich mich, ob ich dich vielleicht zu sehr liebe, ob diese Liebe gefährlich ist und mir schadet.

Rosen haben Dornen, wie auch deine Rose, die du dem Brief beigelegt hast. Mittlerweile ist sie verwelkt und hat ihre einst lebendige Farbe verloren. Das ausdrucksstarke Rot wurde durch ein totes Dunkelrot mit grauem Stich ersetzt. Was von ihr jedoch erhalten ist, sind die Dornen.

Du liebst Rosen, aber hasst ihre Dornen, weil man sich an ihnen verletzt.

Ohne Dornen ist eine Rose nicht vollständig. Genauso ist es mit Menschen und ihren Fehlern. Ohne Fehler wären wir nicht vollkommen, nicht komplett, nicht Menschen. Meine Dornen, meine Fehler, sind ein Teil von mir, aber du hast sie nie akzeptiert. Du hast versucht, eine nach der anderen zu entfernen, aber du bist immer gescheitert.

Du kannst eine Rose nicht ohne ihre Dornen lieben, Isaac. Du kannst mich ohne meine Makeln nicht lieben.

Aber du hast mich ohnehin nicht geliebt, weil ich nicht zu der Rose geworden bin, die du in deinen Vorstellungen verfolgt hast.

Es tut mir leid, dass ich nicht deinen Wünschen entsprochen habe, Isaac. Es tut mir leid, dass du dich an meinen Dornen geschnitten hast.

In Liebe,
Deine Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt