. . . ist die dritte scherbe,

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5. November 2011

Isaac,

kaum zu glauben, dass seit deinem Autounfall bereits zwei Monate vergangen sind und du nach wie vor in diesem Zustand zwischen Leben und Tod gefangen bist, ohne einen Hoffnungsschimmer, dass du zu mir zurückkehren wirst.

Mir ist aufgefallen, dass das Ticken der Uhr eher unregelmäßig ist. Ich habe das Gefühl, dass ich ohne dich jede Minute doppelt so lange lebe, als jede Stunde, die wir miteinander verbracht haben. Es ist paradox, wie langsam ich die Zeit ohne dich empfinde, aber doch rinnt sie so schnell durch meine Finger, dass ich befürchte, bald nicht mehr mit dem Zählen der Tage hinterherzukommen.

Es regt mich unermesslich auf. Wenn ich geahnt hätte, dass es irgendwann zu diesem Zustand kommen würde, dann hätte ich meine Zeit mit dir vollkommen ausgelebt. Aber ich habe die Dinge und uns für selbstverständlich genommen. Ich hätte wissen müssen, dass jeder Kuss vermutlich unser letzter sein könnte. Ich hätte dir jede Sekunde sagen sollen, wie sehr ich dich liebe. Ich hätte meine Komfortzone verlassen und etwas unternehmen sollen, um dir den Tag zu verschönern. Ich hätte dich länger in meinen Armen halten sollen. Ich hätte mich länger in deinen Augen verlieren sollen. Ich habe nicht erkannt, dass der Zeitpunkt, in dem ich deine Hand, die meine warm und fest umschlossen hat, loslasse, auch bedeuten könnte, dass ich dich für immer loslasse.

Aber weißt du, wer von uns bereits losgelassen hat?

Ja, du, Isaac.

Es mag dir nicht bewusst sein, aber du hast uns - mich - losgelassen. Wann genau du uns aufgegeben hast, fällt mir schwer, einzuschätzen. Ich vermute, dass es am dritten Todestag von Maya gewesen ist. Du bist an diesem Tag besonders schlecht gelaunt gewesen. Als du mich am Abend besucht hast, habe ich dich ausgefragt, wo du den ganzen Tag gesteckt hast. Du hast nicht reagiert, was mich nervös gemacht hat. Als ich weiterhin nachgehackt habe, bist du wütend geworden und hast meine Worte komplett falsch aufgegriffen. Du hast gedacht, dass ich dir unterstellen würde, dass du mich betrügst. Allerdings habe ich so etwas nie angedeutet, weil ich dir vertraue und du mir nie Gründe gegeben hast, an deiner Treue zu zweifeln.

Als ich nach dir gegriffen habe, hast du mich weggestoßen. Der Stoß ist recht stark gewesen, sodass ich rückwärtsgefallen bin und dabei die Tischdecke, auf der sich eine Lampe befunden hat, mitgezogen habe, obwohl ich mich an der Tischkante festhalten wollte. Es ist ein verzweifelter Versuch gewesen, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, was nicht geklappt hat. Die Glaslampe ist in winzige Scherben zerbrochen, die sich zu einem hässlichen Mosaik um mich geformt haben. Einige Bruchteile haben sich in meine Handfläche gebohrt. Du hast weder hingesehen noch dich entschuldigt.

Ich habe im Nachhinein von deiner Schwester erfahren, dass du wegen Mayas Todestag zum Friedhof gefahren bist. Isaac, es wäre nicht schlimm gewesen, wenn du mir gesagt hättest, dass du auf dem Friedhof gewesen bist. Ich hätte mir dadurch keine Sorgen um dich gemacht. Ich hätte dich verstanden. Ich hätte verstanden, dass du nach wie vor viel Liebe für sie empfindest und immer noch trauerst, obwohl ich den Schmerz vom Verlust eines geliebten Menschen nicht gekannt habe.

Dank dir kenne ich ihn jetzt, aber nicht, weil du im Koma liegst, sondern weil ich dich bereits verloren habe, als du noch physisch bei mir gewesen bist. Irgendetwas an diesem Tag hat dich verändert, dich zurückgeworfen. Ich konnte seit diesem Tag bis zu deinem Unfall nicht mehr zu dir durchdringen. Du hast dich nach und nach von mir distanziert, aber trotzdem darauf beharrt, dass du mich liebst und dich nicht von mir trennen willst.

Mit dieser Lüge hast du mein Herz mit einer weiteren Scherbe durchbohrt.

In Liebe,
Vanda

Was Uns BleibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt