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Mein Blut wird schockgefroren. Auf der Stelle, ohne Verzögerung und ohne jegliche Vorbereitung. Ich spüre, wie es nur noch mühsam und eiskalt durch meine Adern gepumpt wird, und das obwohl mein Herz so schnell rast, als wäre ich innerhalb von einer Stunde einmal um die Welt gerannt. Es rast so unvorstellbar schnell, dass ich sogar spüren kann, wir es gegen die Innenwände meines Halses pulsiert. Es ist widerlich.

Gerade eben konnte ich noch klar denken, klar erkennen, wie Teenager durch eine Glastür verschwunden sind, wie die Empfangsdame müde gähnte und wie Henry seinen Autoschlüssel in Position brachte, indem er den silbernen Schlüssel ausklappte und anstarrte, doch jetzt ist meine Blick fixiert. Als würde ich mich in einem Tunnel befinden, sehe ich nur noch Doktor Carter.

Doktor Carter in seiner weißen Hose, dem hellblauen Hemd und im weißen Kittel. Er sieht unschuldig und freundlich aus. Ganz anders als noch vor ein paar Minuten als er uns zu Blake ins Zimmer geführt hat. Ich mustere sein Gesicht und versuche verräterische Spuren zu finden. Irgendetwas, das ihn mit Noah in Verbindung bringen lässt. Gleiche Gesichtszüge, die gleichen geschwungenen Lippen, Augenfarbe oder ähnliche Körperbewegungen. Mein Verstand arbeitet auf Hochtouren, doch ich entdecke nichts. Obwohl ich nicht ein winziges Detail an ihm auslasse als ich ihn betrachte, erkenne ich keinen rationalen Grund für meine Panik.

Ich sage mir, dass es an der Uhrzeit liegt, dass der Name Carter vermutlich öfter als nur einmal auf der Welt vorkommt und dass Doktor Carter und Noah ja nicht mal in derselben Stadt wohnen, aber nichts hilft. Ich habe ein irrsinnig schlechtes Gefühl. Als würde ich mich jeden Moment übergeben müssen, verziehe ich das Gesicht und presse eine Hand gegen meinen Magen.

„Kann ich Ihnen helfen?", werde ich plötzlich von dem Arzt gefragt. „Sie sehen schockiert aus."

Ich bin unfähig etwas zu erwidern als er mich seitlich an meinem Ellenbogen berührt.
„Es wird wahrscheinlich einfach die Übermüdung sein. Wir gehen jetzt besser.", übernimmt Henry das Sprechen für mich. Ich vernehme klar und deutlich das unsichere Zittern in seiner Stimme und mir wird bewusst, dass es in Henrys Oberstübchen genauso rattert wie in meinem.

Er zieht mich schnurstracks am Arm mit sich, raus durch die schweren Türen, raus in die angenehm kühle Nachtluft.

Sobald wir die Notaufnahme hinter uns gelassen haben mache ich mich los und kicke einen kleinen Stein von mir, der unschuldig in der beleuchteten Auffahrt liegt.

Sie sieht eigentlich schön aus. Neben einem großen Parkplatz mit unzähligen Laternen, auf dem zu dieser Zeit allerdings wenige Autos stehen, sind wuchtige Bäume mit großen Baumkronen fest in der Erde verankert und zwischendrin wurden liebevoll Blumenbeete angelegt, die gepaart mit grünen Gräsern bei Tag mit Sicherheit die buntesten Blüten zeigen und anderen Patienten ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Ein großer roter Container neben dem Parkplatz, ganz in unserer Nähe, zeigt eine schwarze Grafitto-Verzierung, doch sie ist so schnörkelig, dass ich nicht entziffern kann was da steht.

Ich will mich eigentlich beruhigen. Mir einreden, dass der Arzt, der Blakes Bericht schreiben wird, nichts mit Noah Carter zu tun hat und meinen Puls verlangsamen. Doch anstatt Entspannung durchflutet mich Wut.

„Camilla?", vernehme ich dann Henrys Stimme dicht bei mir.

„Du hast ihn doch gesehen!", schreie ich fast. „Wenn er Carter kennt, wird er da was drehen!"

Mit laufendem Kopfkino und aufeinander gepressten Kieferknochen, spanne ich meine Bauchdecke an und kicke erneut einen Stein durch die Luft. Mein Herzschlag verdoppelt sich rasend schnell, meine Atmung geht flach und hektisch.

„Das ist doch noch gar nicht gesagt!" Verzweifelt schlägt Henry die Hände über seinem Kopf zusammen.

Der Stein trifft die Wand des Containers und mit einem dumpfen Geräusch landet er auf dem dunklen Boden direkt vor mir.

Das Adrenalin fließt durch meinen Körper, mit jedem Atemzug verbreitet es sich, wird von meinem Herzen bis in die hintersten Ecken meines Körpers gepumpt.

Ich weiß nicht wohin mit dieser unkontrollierbaren Energie, die mich so plötzlich überkommt. Es reicht mir nicht die Hände zu Fäuste zu ballen, die Beine von mir zu stoßen und in die Luft zu kicken oder einen imaginären Boxsack, den ich mit vorstelle, zu zerschlagen.

Ich brauche ein Ventil, ich brauche einen Willen, irgendwas, das meinen Körper stoppt, irgendwas, das mir hilft, die Kontrolle über mich zurück zu gewinnen.

Ohne darüber nachzudenken was genau ich tue, drehe ich mich um und schnappe Henry kurzerhand seinen Schlüssel aus der Hand, renne los zu seinem Wagen, der unter den wenigen auf dem Parkplatz steht und reiße die Fahrertür auf.

„Ich glaube du drehst jetzt völlig durch!", verfolgen mich die Rufe von Henry, der sich mittlerweile ebenfalls in Bewegung gesetzt hat und gerade so die Beifahrertür erreicht, als ich den Zündschlüssel im Schloss herum drehe.

Wir schlagen unsere Türen zu, Henry mehr oder weniger unfreiwillig, während er mir einen mehr als panischen Blick zu wird, um den ich mich aber nicht im geringsten kümmere.

Ich will einfach nur weg von hier. Harper und Olivia auf dem Rücksitz wachen nicht auf, obwohl ich den Wagen starte und Gas gebe. Die Straßen sind leer gefegt. Sämtliche Ampeln sind ausgeschalten, was mir eine freie Bahn schafft um durch die Stadt zu brettern. Ich halte das Lenkrad fest umklammert, sodass meine Knöchel weiß hervor treten, während mich das Adrenalin in meinem Blut immer schneller fahren lässt.

„Willst du uns eigentlich umbringen?", flüstert Henry resigniert und krallt seine linke Hand in sein Bein, die andere gegen die Scheibe gepresst. Ich beiße die Zähne aufeinander und schalte hoch. Es müssen gut zwanzig Minuten Fahrt sein, bis wir zurück am Campingplatz sind, doch um schneller zu sein kümmere ich mich nicht um Geschwindigkeitsbegrenzungen, durchgezogene Linien und Ampeln, die eventuell doch rot sind.

Ich jage den Wagen über diverse Hauptstraßen und drücke erst auf die Bremse, als wir uns dem Parkplatz im Tal nähern. Da die Gondeln um diese Uhrzeit niemanden mehr ins Camp bringen werden, fahre ich auf der dunklen, ansteigenden Straße in Richtung Campingplatz und parke auf der grünen Wiesenfläche vor dem Zeltplatz Nummer Eins.

„Mach das nie wieder." Henry fasst sich völlig fertig an die Brust und schluckt als wir schließlich sicher stehen und ich den Schlüssel aus dem Schloss ziehe.

Ich nicke und bleibe für einen kurzen Augenblick sitzen. Es geht mir besser, ich spüre weniger Druck auf meiner Brust, doch jetzt muss ich mir ansehen, was von dem, was noch vor eine paar Stunden passiert ist, übrig ist. Das Feuer ist gelöscht, die Polizei und Feuerwehr nicht mehr zu sehen, ebenso wie die Party Besucher, aber Gäste des Campingplatz sitzen in Gruppen beieinander, unterhalten sich oder starre einfach nur vor sich hin.

Ich bin verwundert, dass Harper und Olivia trotz meines rasanten Fahrstils nach wie vor, friedlich schlafen und berühre Olivia deshalb sanft am Knie. Sie blinzelt und orientiert sich kurz, bevor sie durcheinander wirkend aussteigt und beobachtet, wie Henry Harper aus dem Auto heraus trägt und Richtung unserer Zelte losmarschiert.

Wir folgen ihm schweigend, ohne auch nur ein Wort zu wechseln, während wir von den übrigen Gästen beobachtet werden. Teils misstrauisch, teils mitleidig, doch wir kümmern uns nicht und setzen unseren Weg einfach fort. Henry befördert Harper in ihr Zelt und krabbelt, nachdem er sich vergewissert hat, dass es für alle Beteiligten in Ordnung ist, schließlich hinterher. Olivia und ich tun es ihnen gleich und krabbeln in mein Zelt, kuscheln uns in die Schlafsäcke und atmen tief durch.

Ich kann mich im Moment nicht darum kümmern was morgen sein wird, wie es weiter gehen wird, oder was ich bei der Polizei aussagen werden. Ich bin hundemüde und kann meine Augen kaum offen halten, denn mein Adrenalinspiegel scheint mittlerweile stark gesunken zu sein. Es ist mir egal was die anderen Besucher des Platzes von uns halten, ich möchte einfach nur schlafen und für einen Augenblick alles um mich herum vergessen.

Kurz bevor mir die Lider endgültig zufallen, spüre ich, wie sich Olivias Hand in meine schiebt, sie sanft drückt und beruhigende Wärme durch meinen Körper fließt.

Mit dem Gedanken, dass wir schon irgendwie alles geregelt bekommen werden, schlafe ich letztendlich ein.

Wenn Ich Mit Dir Kuscheln MussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt