Kapitel 4

31 7 0
                                    

Da meine Mutter noch nicht zurück war, als ich aus der Dusche kam, schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Man durfte es eigentlich nicht wörtlich nehmen, denn so etwas wie Schlüssel besaßen wir hier nicht. Aber wenn jemand tagsüber seine Tür geschlossen hatte, kam es dem schon ganz nahe.

Vor mir lag der Ring meines Vaters. Gedankenverloren ließ ich die Seide zwischen meine Finger fließen. Sie war leicht und sanft auf meiner Haut. Eine angenehme Kühle. Meine Augen schlossen sich von alleine und ich stellte mir vor, die Seide würde schweben. Schwerelos in der Luft. Mein Atem ging langsam und ich genoss die Stille. Außer dem Rauschen meines Blutes - und meinen Atem - hörte ich nichts. Ein Lächeln breitete sich aus und es strahlte nach innen. Ich spürte eine nie dagewesene Kraft. Es fühlte sich so neu an, so belebend. Ich fühlte mich mächtig. Aber etwas ließ meine Gedanken wieder in das Hier und Jetzt gleiten. Irgendetwas war falsch. Langsam öffnete ich die Augen.

Meine Augen weiteten sich. Vor Schreck und Erstaunen. Die Seide schwebte über meinen ausgestreckten Händen. Ich atmete flacher, schneller. Denn ich bemerkte noch etwas anderes. Auch ich selbst schwebte Zentimeter über meinem Bett. Heilige Gründerfamilien! Was war nur los mit mir? Eines war mit Sicherheit klar - ich träumte nicht! Und das hier war auch nicht meine Fantasie. Wie zum Beweis wollte ich mir in den Arm zwicken -  und plumpste auf das Bett zurück. Die Seide landete auf dem Ring. Ich zitterte. Was ging hier vor sich?

Alle weiteren Versuche zu schweben oder Lichtkugeln zu erzeugen, schlugen fehl. Vielleicht war es so ein Konzentrationsding und ich musste voll und ganz offen dafür sein. Also packte ich alles wieder zusammen und verstaute die Schachtel mit der Seide und dem Ring wieder in ihrem Versteck. Zur Feier des Tages - ich hatte immer noch Geburtstag - zog ich mir eines meiner feineren Kleider an. Damit meinte ich eines mit weniger Löchern. Außerdem steckte ich mir mein Haar ein wenig hoch und kniff mir in die Wangen, um ihnen ein wenig Röte zu verleihen. Als ich die Wohnküche betrat, war meine Mutter schon da. Sie drückte mich an sich und gab mir einen Kuss auf mein Haar.

"Hübsch siehst du aus, Ambra."

Ich schenkte ihr ein Lächeln. Die Zwillinge schlossen von beiden Seiten ihre Arme um mich und gaben ihren kindlichen Sing-Sang von sich.

"Ambra hat Geburtstag. Ambra hat Geburtstag."

Jede von ihnen nahm mich an der Hand und gemeinsam zogen sie mich zum Tisch und befahlen mir, mich zu setzen.

"Du musst heute nicht helfen. Wir machen das."

Und schon fingen sie an den Tisch zu decken. Wir hatten eine kleine Geburtstagstradition eingeführt. Das Geburtstagskind durfte an seinem besonderen Tag einfach mal die Füße hochlegen.

"Wir haben etwas für dich."

Mit hinter dem Rücken versteckten Händen standen Nadja und Esther schon wieder vor mir.

"So? Soll ich raten?"

Lachend schüttelten sie ihre blonden Mähnen. Sie glichen sich wirklich bis auf das Haar. Aber wenn man sie kannte, dann konnte man sie auseinander halten. Esther hatte einen Muttermal am rechten Ohrläppchen. Dafür hatte Nadja einen am Hals. Sie zählten bis drei und legten mir jede eine selbstgebastelte Karte in den Schoß. Sie hatten sie aus Papier gefaltet und Blätter und Blumen darauf geklebt. Ich grinste breit als ich die Karten aufklappte.

"Ahles Guthe, Ambra", stand in beiden geschrieben und dann hatten sie noch jeweils ihre Namen darunter gesetzt. Ich nahm sie in die Arme und küsste ihre zarten Wangen.

"Danke, ihr Zwei."

"Wir haben dich lieb", sagte Esther und ich drückte beide noch ein wenig fester. Oskar drückte mit einer Hand meine Schulter.

"Alles Gute, Ambra."

"Vielen Dank, Oskar."

"So, und nun alle an den Tisch", Leila und meine Mutter brachten zwei Töpfe mit dampfendem Essen. Es roch unheimlich lecker. Nach Kartoffeln und Gemüse. Wo viel zu Essen hatten wir schon seit langem nicht mehr.

"Da heute ein besonderer Tag ist, gibt es Kartoffeln mit Gemüsesuppe. So viel wie ihr Essen könnt."

Die Zwillinge hüpften auf ihren Stühlen auf und ab und Oskar rieb sich den Bauch. Und obwohl ich mich freute, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Meine Mutter kannte mich nur zu gut. Sie legte ihre Hand an meine Wange und zwang mich sie anzusehen.

"Bitte genieße das Essen. Die Kartoffeln hat Gustav uns zum halben Preis verkauft. Und von Wilmar haben wir das Gemüse beinahe umsonst bekommen. Sie wünschen dir alles Gute zu deinem Geburtstag."

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter.

"Vielen Dank für das Festmahl!"


Müde und satt hingen wir in unseren Stühlen. Jeder mit einem riesengroßen Grinsen im Gesicht. Das Gefühl nicht mehr hungrig zu sein, war wunderbar. Und wir hatten noch einiges übrig, so dass die Mahlzeiten die nächsten Tage auch erfüllender sein werden als sonst. Nadja und Esther waren kurz davor am Tisch einzuschlafen.

"Ich werde die beiden ins Bett legen. Ich bin gleich zurück."

"Warte, ich helfe dir."

Oskar stand auf und gemeinsam brachten er und Leila ihre Kinder ins Bett.

"Mama?", flüsterte ich, immer noch überwältigt von dem Gefühl in meinem Magen.

"Ja?"

Ich setzte mich auf und sah sie an.

"Wann erzählst du mir..."

Weiter kam ich nicht. Leila und Oskar kamen zurück.

"So, Aglaia, nun kann es losgehen."

Oskar rieb sich die Hände und Leila zwinkerte meiner Mutter verschwörerisch zu.

"Was kann losgehen?"

Wortlos stand meine Mutter auf und ging in ihr Zimmer. Leila strahlte mich an.

"Du wirst dich so freuen."

Ein Hämmern an der Tür ließ uns erstarren. Mit gefurchten Augenbrauen ging Oskar zur Tür und öffnete sie.

"Wohnt hier eine gewisse Ambra? "

Mit einem Seitenblick zu mir antwortete Oskar: "Und wer will das wissen?"

Ein Räuspern.

"Ich habe eine Einladung unserer Gründerfamilien von Alruwea, die ich persönlich an Ambra überbringen soll."

Mein Herz hämmerte wie wild. Ich saß da, bewegungslos und bekam nicht mit wie meine Mutter sich an uns vorbei schob und zur Tür ging. Sie klopfte Oskar liebevoll auf die Schulter.

"Ich kümmere mich darum, Oskar."

Er trat zur Seite.

"Kommen Sie doch herein, der Herr."

Mit einer einladenden Geste trat sie zur Seite. Herein kam ein kleiner, dünner Mann. Seine braunen Haare waren mittellang und zu einem Zopf gebunden. Er trug einen schicken Anzug und hielt einen Umschlag in der Hand. Nochmals räusperte er sich.

"Wie ich schon sagte, ich bin hier um Ambra eine Einladung..."

Meine Mutter fuhr ihm ins Wort.

"Das haben wir schon verstanden. Nur wozu?"

Der Mann blinzelte verwirrt.

"Bitte?"

"Wieso laden Sie ausgerechnet meine Tochter ein?"

Sie deutete auf mich. Statt meiner Mutter eine Antwort zu geben, kam der Mann auf mich zu und verbeugte sich. Mit zitternder Hand hielt er mir den Umschlag hin.

"Die Gründerfamilien von Alruwea wünschen Ihnen einen schönen Geburtstag, Ambra. "

Um ihn aus seiner Verbeugung zu erlösen, die mir ehrlich gesagt peinlich war, nahm ich den Umschlag von ihm entgegen.

"Danke."

Nickend drehte er sich auf dem Absatz um, ging und ließ uns verwirrt zurück.

 

Die Erbin der MagiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt