Kapitel 10

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Vier Tage. Das war der erste Gedanke, als ich aufwachte. In vier Tagen würde mich jemand ins Zentrum bringen. Nachdem ich aus meiner Ohnmacht erwacht war, hatten wir entschieden, dass unser Experiment mit dem Ring teils geglückt war, aber auch leider in die Hose ging. Ich fühlte mich danach nur noch müde, so dass ich mich direkt schlafen legte. Es war so wunderbar gewesen, als die Magie durch meine Adern rauschte. Ein Gefühl der Macht hatte von mir Besitz ergriffen. Dennoch war es zu gefährlich. Ich konnte den Ring außerhalb meines Zimmers nicht tragen. Schon gar nicht im Zentrum. Wenn jemand das Zeichen darauf erkennen würde, wäre das mein sicherer Tod. Ich musste die Magie richtig beherrschen. Und ich würde es schaffen! Mit neuem Mut schlug ich die Decke zurück und stand auf. Da niemand da war, nutzte ich die Chance und versuchte mir meinen Tee mit meiner Magie zu brühen. Ich setzte mich mit der Tasse an den Tisch und legte meine Hände darum. Mit geschlossenen Augen stellte ich mir vor, wie die Kraft in mir, zu meinen Händen wanderte und das Wasser in der Tasse erhitzte. Zuerst geschah nichts, doch nach kurzer Zeit hob ich vom Stuhl ab. Ich lachte und landete unsanft auf dem Stuhl. Es war nicht das, was ich erwartet hatte, aber immerhin hatte ich es geschafft, die Magie ohne den Ring zu nutzen. Und ohne emotionalen Ausbruch. An dieses Stück Hoffnung klammerte ich mich. Den ganzen Tag über versuchte ich die Magie in mir hervorzurufen. Statt mein Duschwasser zu erhitzen, flogen Lichtkugeln durch das Badezimmer. Und als ich schweben wollte, erhitzte ich meinen Tee. Ich freute mich über die Ergebnisse. Zwar konnte ich die Magie noch nicht beherrschen, aber sie war da. Am Abend war ich so müde, dass ich nicht mehr trainierte. Ich legte mich sofort ins Bett und schlief ein.

Die Tage vergingen wie im Flug und langsam wurde ich nervös. Die Magie ließ sich noch immer nicht komplett beherrschen und durch die Anspannung passierten mir wieder einige Unfälle. Ich musste ganz dringend meine Emotionen unter Kontrolle kriegen.

Wir saßen alle beim Abendessen. Dem letzten gemeinsamen. Die Stimmung war drückend und ich fühlte die Blicke auf mir, die Leila und Oskar mir zu warfen. Die Zwillinge waren traurig und aufgeregt zugleich.

"Kannst du uns schreiben, Ambra?", fragte Esther mich. Ich streichelte ihr Haar.

"Aber natürlich schreibe ich euch so oft ich kann."

Ich versuchte mich an einem Lächeln und hoffte, dass man es mir abnahm.

"Darfst du uns besuchen kommen?"

Nadja schaute mich mit ihren großen Augen an.

"Ich denke nicht."

"Aber Kinder, Ambra bleibt ja nicht so lange weg. Wir sehen sie bald wieder."

Leila drückte Nadja an sich. Meine Mutter sah mich schweigend an. Die Worte lagen unausgesprochen zwischen uns. Ja, wir würden uns alle wiedersehen, wenn ich nicht versagte.

Ich saß noch lange wach und erzeugte Lichtkugeln. Ließ sie größer und kleiner werden. Dabei schwebte ich wenige Zentimeter über meinem Bett. Ich hatte meine Kräfte mittlerweile weitestgehend unter Kontrolle. Was mein Problem war, waren meine Emotionen. Als mein Magen knurrte, hörte ich auf zu üben und ging in die Küche. Ich legte mir etwas Käse auf einen Teller und schnitt mir dazu eine dünne Scheibe Brot ab. Ich drehte mich um und wollte gerade zum Tisch laufen, da stand meine Mutter in der Tür. Ich erschrak und ließ den Teller fallen. Wie in Zeitlupe sah ich ihn fallen. Kurz vor dem Boden - stoppte er. Ich stand da mit ausgestreckter Hand und hielt den Teller über dem Boden. Langsam setzte ich ihn ab.

"Du bist sehr gut."

Ich sank zu Boden.

"Ja, ich habe viel geübt."

Meine Mutter setzte sich neben mich und nahm meine Hand.

"Und es hat sich gelohnt. Du wirst es schaffen."

Schweigend saßen wir nebeneinander. Mein Magen knurrte wieder, doch ich ignorierte ihn.

"Ambra?"

"Hm?"

"Ich glaube an dich."

Ich lehnte mich an meine Mutter und versuchte die Tränen zu unterdrücken.

"Ich habe Angst", flüsterte ich leise.

"Ich weiß, mein Schatz."

"Was, wenn ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe? Wenn ich jemandem bekannt vorkomme, weil er dich kannte?"

"Das wird nicht passieren. Du siehst deinem Vater ähnlicher als mir. Und ich weiß, dass du es schaffst und dass wir uns in einem Monat wiedersehen werden."

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände.

"Mein wunderschönes, großes Mädchen. Du wirst sehen. Alle werden von dir begeistert sein. Das ist deine Chance."

Ich schluckte die Tränen hinunter und nickte.

"Danke, Mama."


Ich schlug die Augen auf. Es war so weit. Der Tag war gekommen. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein und aus. Versuchte mir den Geruch meines Zimmers einzuprägen. Ich schaute mich um und wollte mir jedes Detail merken. Mein schäbiger Koffer stand offen in der Ecke. Langsam stand ich auf und machte mich ans Packen. Viel war es nicht. Den Ring versteckte ich zwischen den Unterhosen und das Seidenkleid packte ich ganz nach unten. Ich zog mein neuestes Kleid an und trug den Koffer in unsere Wohnküche. Alle saßen schweigend am Tisch und beobachteten mich. Ich nickte ihnen kurz zu und ging ins Bad. Mein Haar flocht ich mir zu zwei Zöpfen zusammen. Anschließend putzte ich meine Zähne, wusch mein Gesicht und ging wieder zu den anderen. Es wurde Zeit für den Abschied.

"Hast du gut geschlafen?", fragte Oskar und stellte eine dampfende Tasse vor mich. Nickend pustete ich an dem heißen Tee. Ich spürte die Anspannung in mir aufsteigen und versuchte sie zu unterdrücken. Zu spät. Ich schrie auf, als die Tasse in meinen Händen zersprang. Meine Mutter - die geborene Medicus - zog mich direkt ins Bad und ließ kaltes Wasser über meine Hände fließen.

"Ambra, Schatz, ist alles okay?"

Ich atmete tief ein.

"Ja, alles gut."

Zum Glück waren meine Hände nur leicht rot, dennoch bestand meine Mutter darauf sie mir zu verbinden.

"Mama, bitte nicht."

"Von mir aus mach den Verband heute Abend wieder ab."

Um des Friedens Willen ließ ich es geschehen und umarmte sie, als sie fertig war.

"Ich hab dich lieb."

"Ich dich..."

Ein Klopfen an der Tür ließ uns zusammenfahren. Meine Mutter legte ihre Hände auf meine Schultern.

"Bereit?"

"Hab ich eine andere Wahl?"

Kopfschüttelnd zog sie mich in eine Umarmung.

"Pass auf dich auf."

Sie küsste meinen Kopf und ließ mich los. Gemeinsam gingen wir zu den anderen. Oskar hatte bereits die Tür geöffnet. Mein Abholer saß mit dem Rücken zu mir zwischen den Zwillingen, die ihn bewundernd anschauten. Meine Mutter ergriff das Wort.

"Guten Tag, der Herr. Meine Tochter wäre dann so weit."

Als er aufstand und sich umdrehte, wusste ich, warum die Mädchen ihn so angehimmelt hatten. Er war groß und muskulös. Seine dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten, doch einzelne Strähnen hingen ihm in die Stirn. Er lächelte und entblößte eine Reihe gerader, weißer Zähne. Er sah wirklich gut aus. Doch das war alles nichts, im Vergleich zu seinen Augen, die so strahlend blau leuchteten, dass es mir die Sprache verschlug.

Die Erbin der MagiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt