Kapitel 6

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Wir saßen immer noch gemeinsam am Tisch. Oskar hatte sich an seinem Tee verbrannt, was komisch war, denn der Tee war nicht mehr heiß gewesen. Irgendwann erhob sich meine Mutter und ging in ihr Zimmer, nur um kurz darauf mit einem Geschenk in der Hand wiederzukommen. 

"Wenn wir schon so gemütlich zusammen sitzen, dann kannst du auch auspacken."

Sie versuchte zu lächeln, doch es wirkte gezwungen und erreichte nicht ihre Augen. Seitdem meine Entscheidung klar war, war sie still gewesen. Leila klatschte in die Hände. Sie freute sich mehr als ich. Ich würde mich gerne freuen, wirklich. Aber die ganzen Ereignisse der letzten Stunden machten mir das ziemlich schwer.

"Danke."

Das flache Paket lag in seiner blauen Verpackung mit rotem Band vor mir. Es schrie förmlich: Pack mich aus! Als ich langsam das Band aufzog, überkam mich doch noch Freude und ich riss es ungeduldig auf. Ich hob den Deckel der Schachtel und traute meinen Augen nicht.

"Wie?", flüsterte ich und entfaltete ein blaues Seidenkleid.

"Das ist nicht wichtig. Probier es an."

Dieses Mal war das Lächeln meiner Mutter echt. Ich stürmte mit dem Kleid ins Bad. Es hatte lange Ärmel, die zum Ende hin weiter wurden. Der Stoff schmiegte sich perfekt an meinen Körper und betonte meine Rundungen. An der rechten Seite war es bis zur Mitte des Oberschenkels geöffnet. Ich erkannte mich nicht wieder als ich in den Spiegel sah. 

Als ich in die Wohnküche trat, gab es die verschiedensten Reaktionen. Oskar nickte anerkennend.

"Na, sieh mal einer unsere Ambra an."

Leila hatte Tränen in den Augen und presste ihre Hände auf den Mund. Sie brachte keine Worte heraus und nickte nur. Meine Mutter nahm mich einfach in den Arm und flüsterte:

"Meine große Ambra."

Plötzlich überkam mich ein eigenartiges Gefühl. Wie passend, dass ich jetzt dieses Kleid besaß, wo ich doch vor wenigen Stunden erst eine Einladung zu einem Ball bekommen hatte. Hatten sie womöglich doch etwas gewusst? Wie kamen sie auf die Idee mir ein Kleid zu schenken? Die Antwort darauf kannte ich schon.

"Es ist doch dein Geburtstag." 

Das war aber noch lange kein Grund mir ein maßgeschneidertes Seidenkleid zu schenken. Woher, im Namen der Gründerfamilien, hatten sie das Geld dafür? Mir wurde heiß und kalt und das Kleid begann auf meiner Haut zu jucken. Ich wollte es so schnell wie möglich ausziehen.

"Ihr wusstet es."

Leila und Oskar wirkten sichtlich verwirrt. Die Einzige, die mich entschuldigend ansah, war meine Mutter. Nach Luft schnappend rannte ich in mein Zimmer. Die Tür fiel knallend ins Schloss. Mir war egal, dass ich die Zwillinge wecken würde. Mir war alles egal. Ich konnte nicht atmen. Ich musste aus diesem Kleid raus. In einer Bewegung fiel es zu Boden und ich stapfte wütend in meinem Zimmer auf und ab. Sie wusste es. Ich hatte es an ihrem Blick gesehen und doch hatte sie mich vorhin angelogen. Hatte so getan als wüsste sie nichts von dem Brief. Von der Einladung. Sie hatte es schon vor Tagen, möglicherweise sogar vor Wochen, gewusst. Und sie hatte kein Wort darüber verloren. Ich fühlte mich verraten. Von meiner eigenen Mutter. Hatte ich wirklich gedacht, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffen konnte? Sie kannte mich. Sie wusste, dass ich für die Familie ins Zentrum gehen würde. Wenn sie es schon vorher wusste, wieso hatte sie es mir nicht gesagt? Es klopfte leise an meiner Tür. Zögernd wurde sie geöffnet und meine Mutter trat ein.

"Was zum Teufel geht hier vor sich?"

Ich schrie sie an. Bebend stand ich vor ihr und wartete auf eine Antwort.

"Ambra, lass mich erklären."

Beschwichtigend hob sie die Hände und ich tat das respektloseste, was ich je in meinem Leben getan hatte. Ich schlug ihre Hände weg.

"Ich will deine Erklärungen nicht hören! Ich will, dass du mir antwortest!"

"Du musst dich beruhigen, Ambra."

Ich war so in rage, dass ich nicht zuhören wollte.

"Wusstest du von der Einladung?"

Seufzend setzte sie sich auf mein Bett und nickte.

"Warum? Warum hast du dann so getan, als würdest du nichts wissen?"

"Ambra, kannst du dich bitte setzen? Lass uns doch in Ruhe darüber reden."

Ich war so in meiner Wut gefangen, dass ich, wie ein trotziges Kind, meinen Fuß auf den Boden stampfte. Es krachte und dort, wo mein Fuß den Boden traf, war nun ein Abdruck. Sofort war meine Wut verflogen. Fassungslos schaute ich zu Boden und sackte zusammen. Meine Mutter packte mich unter den Armen und zog mich neben sich auf mein Bett.

"Was geschieht mit mir?", flüsterte ich mit zitternder Stimme. Sie streichelte mein Haar.

"Es ist wohl an der Zeit, dass ich dir so einiges erkläre."

Die Erbin der MagiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt