Kapitel 5

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Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war. Ich saß einfach so da und betrachtete den Umschlag in meiner Hand, auf dem in einer wunderschönen, geschwungenen Schrift mein Name stand. Leila war die Erste, die unser Schweigen brach.

"Willst du ihn nicht aufmachen?"

Wollte ich das? Wollte ich wissen, was das für eine Einladung war? Ich konnte diesen Umschlag einfach nehmen und zerreißen. Ihn wegwerfen. Wen interessierte es schon, ob ich ihn las oder nicht? Oder ich konnte ihn öffnen und lesen. Hatte ich mich nicht insgeheim danach gesehnt, dass so etwas passieren würde? Wollte ich nicht schon immer das Zentrum von Alruwea sehen? War dies wirklich eine Einladung ins Zentrum?

"Ambra?"

Tiefe Sorgenfalten entstellten das hübsche Gesicht meiner Mutter.

"Du musst ihn nicht lesen."

Ich holte tief Luft und stand auf.

"Ich werde ihn öffnen."

Meine Mutter streckte einen Arm aus, doch ich wich zurück.

"Allein."

Ohne einen von den Dreien anzuschauen, ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich legte den Umschlag auf mein Bett. Die Schachtel mit dem Ring holte ich aus dem Versteck hervor. Langsam setzte ich mich auf mein Bett und betrachtete die Gegenstände, die dort nebeneinander lagen. Was für ein seltsamer Tag! Die Lichtkugeln, der Ring meines Vaters, schwebende Seide - und nicht zu vergessen: schwebende Ambra! - und nun diese Einladung. Behutsam nahm ich den Ring und schloss meine linke Hand um ihn. Ich legte ihn zurück und nahm den Umschlag. Entschlossen riss ich ihn auf.

Lange saß ich da und starrte auf die Worte, die mit der Zeit verschwammen

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Lange saß ich da und starrte auf die Worte, die mit der Zeit verschwammen. Das war ein Scherz. Das konnte nur ein Scherz sein. Wieso sollten die Gründerfamilien das tun? Ein ganzer Monat in Alruwea? Im Haus einer Gründerfamilie leben? Ich? Nein. Ich lachte. Es MUSSTE einfach ein Scherz sein. Ich packte den Ring unter mein Kissen, nahm den Brief und ging in die Wohnküche. Wie ich erwartet hatte, saßen meine Mutter, Leila und Oskar immer noch in der Küche. Vor jedem von ihnen stand eine dampfende Tasse Tee. Wortlos starrten sie mich an. Ich legte den Brief in die Mitte des Tisches und holte mir auch eine Tasse Tee, bevor ich mich zu ihnen setzte.

"Gut gelungen", sagte ich grinsend in die Runde.

Eigentlich war nun der Zeitpunkt gekommen, an dem Oskar mir lachend auf die Schulter klopfte und sagen würde: "Ich sagte euch doch, dass unsere Ambra auf sowas nicht reinfallen würde." Aber nichts geschah. Sie sahen mich weiterhin schweigend an.

"Wirklich. Ihr könnt aufhören. Ich weiß, dass das von euch ist. Fast hätte ich euch auch geglaubt. Der Bote war wirklich sehr überzeugend."

Meine Mutter nahm den Brief und las ihn sich durch. Ihre Hand fuhr an ihren Mund und ihr schossen Tränen in die Augen. Dies war der Zeitpunkt, an dem mir klar wurde, was das zu bedeuten hatte.

"Nein. Nein!", beinahe schrie ich.

Leila legte ihre Hand an meinen Arm.

"Es wird alles gut. Stimmt's, Aglaia?"

Aufmunternd schaute sie zu meiner Mutter, die sich wieder gefasst hatte.

"Ja, uns wird schon etwas einfallen."

"Mama."

Sie hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und begann auf und ab zu laufen.

"Wir sagen einfach, sie kann nicht."

"Mutter."

"Genau, du bist ganz einfach krank."

"Mutter!"

Krachend fiel mein Stuhl zu Boden, so abrupt war ich aufgestanden. Endlich hatte ich ihre Aufmerksamkeit. Noch nie war ich laut geworden. Es hatte auch nie einen Grund dafür gegeben. Doch ich wollte nicht mehr still und leise sein. Ich wollt gehört werden.

"Zerbrecht euch nicht den Kopf. Es ist doch offensichtlich, was geschehen wird."

In Zeitlupe setzte sich meine Mutter auf ihren Stuhl. Leila legte einen Arm um sie.

"Meine Entscheidung steht fest. Ich werde die Einladung annehmen und nach Alruwea gehen. Ich werde diese Chance nutzen. Für alle Mittellosen. Für uns."

Wartend schaute ich einen nach dem anderen an. Niemand stellte meine Entscheidung in Frage. Und ich war froh darüber, dass ich  nicht länger diskutieren musste. Ich setzte mich wieder hin. Es war eine angespannte Stille - bis Oskar sie mit einem Aufschrei unterbrach. Fluchen stellte er seine Tasse auf den Tisch.

"Verdammt, warum ist der Tee denn so heiß?"

Die Erbin der MagiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt