Sie goss sich Wein nach, drehte die Flasche in ihren Händen und studierte abwesend das aufwändig gestaltete Etikett. Sie erinnerte sich noch genau an den Moment, als ihr Opa versucht hatte, ihr den edlen Tropfen unauffällig ohne dass seine Frau es mitbekam zuzustecken. Die Argusaugen ihrer Oma hatten sich missbilligend verengt und sie hatte Sabrina das Versprechen abgerungen, die Flasche erst zu einem würdigen Anlass zu öffnen. Ihre Großmutter hatte zeit ihres Lebens nicht einen einzigen Schluck Alkohol getrunken. "Das Teufelszeug ist nur schlecht für die Gesundheit!", hatte sie bei jeder passenden Gelegenheit mit Inbrunst geschimpft. Geholfen hatte ihr der Verzicht nicht. Sie war viel zu früh an einem Herzinfarkt gestorben.
Sabrina hatte damals gerade ihre Ausbildung beendet. Sie nahm Urlaub und kehrte zum ersten Mal nach drei Jahren für länger als nur zum Kurzbesuch in ihr altes Heimatdorf zurück. Noch immer fiel es ihr schwer, dort zu verweilen. Aber es ging nicht anders, sie wurde gebraucht. Ihr Großvater war nicht in der Verfassung, für ihren Bruder Max zu sorgen. Er schaffte es noch nicht einmal, sich ausreichend um sich selbst zu kümmern. Ohne seine Frau war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Er agierte mechanisch, fast roboterartig, und war ohne sie nur noch eine deplatzierte leere Hülle seiner selbst. Meist saß er einfach nur da und stierte in die Ferne, körperlich vor Ort aber innerlich meilenweit entfernt und für die Lebenden unerreichbar. Obwohl sie und Max ihr Bestes gaben schafften sie es nicht, zu ihm durchzudringen.
Sie fühlte sich allein gelassen und zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich überfordert. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte um ihrem Opa zu helfen. Wie sollte sie auch wissen, was in ihm vorging? Sie selbst hätte in seiner Situation wohl das Nötigste eingepackt und wäre irgendwohin aufgebrochen, hätte auf Ablenkung und Neuanfang gesetzt. Aber diese Strategie war wohl kaum die geeignete für einen alten Mann, der mehr oder weniger sein ganzes Leben in diesem einen Dorf an der Seite dieser einen Frau verbracht hatte. Sie wusste keinen Rat und hatte niemanden, den sie fragen konnte.
Natürlich wäre es ihre Pflicht gewesen, ihm die Tabletten vorzuenthalten, wenn sie seinen Plan durchschaut hätte. Aber sie hatte den Ernst der Lage verkannt. Das Medikament war vom Hausarzt verordnet worden. Hätte sie wirklich damit rechnen müssen, dass Ihr Großvater die Pillen horten und in einer Überdosis schlucken würde?
Auch wenn es offenkundig sein Wille gewesen war, seiner Frau ins Grab zu folgen, fraßen die Schuldgefühle Sabrina innerlich auf. Sie hatte versagt, hatte es nicht geschafft, ihm den nötigen Lebensmut zurück zu geben. Waren sie und Max ihm tatsächlich so wenig wert gewesen? Sie fühlte sich im Stich gelassen. Er hatte seine Wahl getroffen, und das, ohne an seine Enkel zu denken.
Aber wie hätte sie ihm das vorwerfen können? Sie hatte kein Recht sich zu beschweren, sie selbst hatte ihn ja ebenfalls im Stich gelassen, drei Jahre zuvor. Gut, sie lebte noch, der Vergleich hinkte also. Aber ihre Großeltern hatte sie an diesem neuen Leben in der Stadt eher wenig teilhaben lassen, das ließ sich nicht leugnen.
Nun gab es nur noch sie und ihren dreizehnjährigen Bruder Max.
Sie schwor sich, ab sofort für ihren kleinen Bruder da zu sein und wenn nur irgendwie möglich alles, was sie die letzten drei Jahre über versäumt hatte, wieder gut zu machen. Sie musste sich ihrer Verantwortung stellen. Was blieb ihr anderes übrig? Ihr Bruder hatte schließlich niemanden mehr außer ihr.
Sie war inzwischen neunzehn Jahre alt und beruflich fest angestellt. Mit ihrem guten Abschluss war sie nach der Ausbildung nahtlos in eine Festanstellung übernommen worden. Trotzdem versuchte das Jugendamt vorrangig, ihren Vater ausfindig zu machen. Jenen Mann, der sie damals ohne mit der Wimper zu zucken im Stich gelassen hatte und sich seitdem einen Dreck um sie geschert hatte. Die Suche verlief zum Glück erfolglos. Niemand wusste, wo er sich aufhielt oder ob er überhaupt noch lebte. Seine Spur verlor sich wohl irgendwo in Namibia, wo er kurz nach seinem Weggang an einem Hilfsprojekt teilgenommen hatte.
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Liebe(r) ohne Plan
RomanceKann man aktiv steuern, in wen man sich verliebt? Gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit für verpasste Chancen? Sabrina ist zweiundzwanzig Jahre alt und hat eigentlich immer für alles eine Lösung parat. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter war sie sch...