Sie trank einen weiteren großen Schluck Wein und zwang ihre Konzentration zurück auf Omas DVD. Sie wollte jetzt nicht über Julian nachdenken. Es war zu schmerzhaft, auch nach sechs Monaten noch. Dass er sie jetzt mied, machte es nicht besser sondern schlimmer. Sie hatte nie die Chance bekommen, das zwischen ihnen zu klären. Das alles war ihre Schuld. Wieso hatte sie nichts gemerkt? An welchem Punkt der Entwicklung hätte sie eingreifen müssen? Was hätte sie anders machen müssen?
Er war so oft bei Max gewesen, dass es völlig normal für sie gewesen war, ihn um sich zu haben. An den Wochenenden hatte er mehr oder weniger dauerhaft bei ihnen gewohnt, wenn man ehrlich war. Sie hatte sich gefreut, dass er da war und gern Zeit mit ihm verbracht. Sein Enthusiasmus und seine Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft waren toll und so völlig gegensätzlich zu ihrem eigenbrötlerischen Bruder, der sich nach wie vor am liebsten in sein Zimmer zurückzog und kein Freund vieler Worte war.
Julian hatte gern mit ihr geredet und hatte sich immer wieder eingebracht und nützlich gemacht, wo er konnte. Sie erinnerte sich, dass er mal Stunden damit zugebracht hatte, ihren defekten Laptop wieder in Gang zu bringen. Und einmal, als er mitbekam, wie sie über die schlechten Lichtverhältnisse im Bad fluchte, überraschte er sie kurz darauf mit einer eigens installierten LED-Beleuchtung für ihren Spiegel.
Als sie ihm dankte und sein Talent lobte, war er seltsam verlegen geworden, was für ihn eigentlich total untypisch war. "Einfaches Danke reicht", hatte er ungewohnt schroff entgegnet und den Blick gesenkt, als sie ihm wenigstens die Materialkosten für die Lampen ersetzen wollte. Eigentlich hätte sie es spätestens da merken müssen. Julian war sonst nie schüchtern. Aber im nächsten Moment hatte er sie wieder angestrahlt und zugequatscht und geschickt vom Thema abgelenkt.
Das konnte er gut. Er hatte seinen speziellen unverkennbaren Humor und eine ordentliche Portion jener überschwänglichen Lebensfreude, die so ansteckend war, dass man sich nicht entziehen konnte. Ja, verdammt. Sie mochte ihn. Sehr sogar. Sie wollte nicht auf seine Gesellschaft verzichten. Deshalb hatte sie das Offensichtliche verdrängt und nicht wahr haben wollen, dass er sich längst nicht mehr nur wegen Max so häufig bei ihnen aufhielt.
Wie oft hatte er einfach nur mit ihr zusammen fern gesehen, während Max an seinem Computer zockte? Wie oft hatte er nachdem er bei ihnen übernachtet hatte morgens mit ihr zusammen gefrühstückt, während Max noch schlief? Wie oft hatte er ihr freiwillig beim Kochen assistiert? Einmal waren sie sogar zu zweit zusammen im Kino gewesen, als Max den Film nicht sehen wollte.
Im Nachhinein konnte sie ihre Naivität kaum fassen. Wie hatte sie derart die Augen verschließen können? Es wäre ihre Aufgabe gewesen, rechtzeitig gegen zu steuern, sensibel und erwachsen zu reagieren und die Distanz zu wahren. Aber sie hatte sich in seiner Nähe wohl gefühlt und nicht begriffen, was sie da tat. Scheiße, sie hatte quasi fast eine Beziehung mit ihm geführt, wenn man den körperlichen Aspekt mal außer Acht ließ. Wie konnte man so blind sein, so etwas nicht zu merken?
Sie hatte tatsächlich nichts geahnt, bis zu jenem Abend vor sechs Monaten. Es war ein Samstag Ende Juni, das Wochenende nach Max' sechzehntem Geburtstag. Er und Julian wollten mit Freunden in eine Bar, feiern, dass Max nun endlich alt genug war um offiziell hinein zu dürfen.
Es war der Abend, an dem sie ihr erstes Date mit Dennis hatte.
Dennis hatte sie bei der Arbeit kennengelernt. Sie gingen schon seit längerem zusammen zur Mittagspause. Dass er mehr als das wollte, wusste sie, aber sie hatte gezögert. Es war drei Jahre her, dass sie sich zuletzt auf einen Mann eingelassen hatte. Zuerst hatte sie ihrem kleinen Bruder zuliebe darauf verzichtet. Inzwischen war Max aber ganz eindeutig nicht mehr klein, so dass dieses Argument nicht länger zählte. Und sie hatte ja auch nicht vor, plötzlich jedes zweite Wochenende bis spät in die Nacht exzessiv feiern zu gehen oder in unbekannten Betten aufzuwachen. Hier ging es um einen Kinobesuch und ein Glas Bier mit einem zuverlässigen Kollegen, und dagegen war wohl kaum etwas einzuwenden. Auch nicht, wenn sich daraus mehr entwickeln würde. Ein fester Freund war ja eher das Gegenteil von unsolidem Lebenswandel.
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Liebe(r) ohne Plan
RomanceKann man aktiv steuern, in wen man sich verliebt? Gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit für verpasste Chancen? Sabrina ist zweiundzwanzig Jahre alt und hat eigentlich immer für alles eine Lösung parat. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter war sie sch...