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Sie war froh, nach Weihnachten wieder arbeiten zu dürfen. Sie hatte sich freiwillig bereit erklärt, zwischen den Feiertagen im Büro die Stellung zu halten.

In den Vorjahren war sie über den Jahreswechsel mit Max immer ein paar Tage in Winterurlaub gefahren, aber dieses Jahr wollte er Silvester gern mit seinen Freunden feiern. Seine Clique plante eine größere Privatparty, die Max auf keinen Fall verpassen wollte.

Sie selbst hätte absolut nichts dagegen einzuwenden gehabt, die Stadt zu verlassen. Sie fühlte sich nicht nur urlaubsreif, sie lechzte auch nach einem Tapetenwechsel.

Max versicherte ihr zwar, dass es ihm absolut nichts ausmachen würde, sie für einige Tage zu entbehren, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, ohne ihn zu fahren.

Nicht weil sie es ihm nicht zutraute, sich selbst zu versorgen. Sie war nur einfach nicht der Typ für Alleinurlaub. Von ihren Freunden hatte niemand Zeit. Die meisten waren zu ihren Familien gefahren und kamen erst nach Neujahr zurück.

Eigene Pläne für Silvester hatte sie somit ebenfalls noch nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, wo sie auswärts hätte feiern gehen können. Die letzten Jahre waren sie ja nie zuhause gewesen, und vor Max' Zeiten hatte sie einfach zusammen mit übrig gebliebenen Mitbewohnern im Wohnheim gefeiert.

Normalerweise hätte es ihr auch nichts ausgemacht, einfach zu Hause zu bleiben und den Jahreswechsel eventuell sogar zu verschlafen. Oder sich mal wieder einen Film aus Omas DVD-Kollektion anzusehen. Diesmal graute es ihr jedoch allein schon vor der Vorstellung. Sie wäre eh nicht in der Lage, sich in irgendeiner Form zu entspannen. Sie kam gerade mit sich selbst überhaupt nicht gut klar, und würde dabei nur unnötig ins Grübeln geraten. Deshalb kam ihr gerade jegliche Art von Beschäftigung und Aktivität entgegen. Bloß nicht zur Ruhe kommen und sich die Misere ihrer jüngsten Fehltritte vor Augen halten müssen.

Eine Chance auf Rettung zog sie am letzten Arbeitstag des Jahres nach Feierabend unerwartet aus ihrem Postkasten. Ihre alte Freundin Jessica hatte ihr eine Weihnachtskarte geschickt und darin erwähnt, dass sie über die Feiertage ihre Eltern besuchte. Die Karte war in Seattle aufgegeben worden und hatte fast drei Wochen gebraucht.

Jessica und sie kannten sich seit dem Kindergarten und waren später zusammen in der Grundschule und auf dem Gymnasium gewesen. Als Teenager hatte man sie fast nur im Doppelpack angetroffen. Nachdem sie früher von der Schule abgegangen und in die Stadt gezogen war, hatten sie sich allerdings aus den Augen verloren, erst recht, seit Jessica nach ihrem Abitur zum Studieren in die USA gegangen war.

Die liebevollen Worte in der vertrauten ebenmäßig geschwungenen Handschrift zu lesen, löste eine Welle von Nostalgie in ihr aus. Plötzlich sehnte sie sich schmerzvoll nach ihrer alten Freundin, ihrem Heimatdorf und der Geborgenheit ihrer glücklichen Kindheit. Eine Freundin wie Jessica hatte sie später nie wieder gefunden. Die Telefonnummer ihres Elternhauses kannte sie heute noch auswendig.

Sie hatte zwar keine Ahnung, ob sie beide sich nach so vielen Jahren überhaupt noch verstehen würden. Trotzdem folgte sie ihrem spontanen Impuls. Sie griff zum Telefon und wählte die altbekannte Nummer. Ihr Herz klopfte heftig, während sie an ihrem Ende der Leitung darauf wartete, dass Jessicas Mutter, die das Gespräch angenommen hatte, den Hörer an ihre Tochter weiterreichte.

"Sabrina, bist das wirklich du? Du hast meine Karte also bekommen? Ich war ja nicht mal sicher, ob ich noch deine korrekte Anschrift hatte. Oh mann, ich freue mich so riesig, dass du anrufst, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich habe so oft an dich gedacht. Wir müssen uns unbedingt treffen, solange ich noch in Deutschland bin. Ich habe dir so viel zu erzählen. Gestern noch hat mich der olle Krause nach dir gefragt. Du glaubst es nicht, der trägt immer noch die gleichen schrecklichen Karo-Hosen wie damals. Nur weniger Haare hat er. Der müsste jetzt eigentlich auch langsam in Rente gehen. Weißt du noch, als wir damals mit dem auf Klassenfahrt waren? ich dachte, ich sterbe, als er die Flasche mit dem Kräuterlikör auf unserem Zimmer gefunden hat. Wie er allen Ernstes Mom später gefragt hat, ob ihr mein Mitbringsel gut geschmeckt hat. Wenigstens hat sie in dem Moment schnell geschaltet. Auch wenn ich hinterher zu Hause noch richtig heftig Ärger dafür bekommen habe. Wie alt waren wir damals? Vierzehn?"

Liebe(r) ohne PlanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt