-4-

19 3 0
                                    



Dennis bekam von dem Drama nichts mit. Nur für Sabrina war der Abend gelaufen. Die Erkenntnis, dass Julian in ihr etwas anderes sah als die ältere Schwester seines besten Freundes, traf sie wie ein Schlag mit dem Bolzenhammer. Ihr schwirrte der Kopf. Wie hatte ihr so etwas essentielles entgehen können? Wann genau hatte das angefangen? Wie lange hatte sie ihn unbewusst in seinen Gefühlen bestärkt? Wie hätte sie es abwenden können? Was hätte sie anders machen müssen? Sie war die Erwachsene, sie hätte die Entwicklung im Keim ersticken müssen.

Noch schlimmer aber traf sie die Erkenntnis, dass sie selbst ebenfalls etwas für ihn fühlte. Sie war nicht neutral, er ließ sie längst nicht so kalt wie er sollte. Wie sonst war es zu erklären, dass ihr seine Reaktion so nahe ging? Das war nicht die Sorge um den Teenager, für den sie die Verantwortung hatte. Nein, sie empfand etwas für ihn. Julian musste das instinktiv gespürt haben. Das hätte sie sich nicht erlauben dürfen, es durfte nicht sein.

Sie konnte nicht leugnen, dass er sich im Laufe der fast drei Jahre, die sie sich nun kannten, ziemlich gut entwickelt hatte. Er war ein gutes Stück gewachsen, hatte Figur bekommen, der Babyspeck in seinem Gesicht hatte sich verflüchtigt. Ein ausdrucksstarker Typ war er schon immer gewesen. Sein leicht schiefes Grinsen, das herausfordernde Funkeln in seinen Augen, seine spezielle Art, wie er bei einer Frage die linke Augenbraue anhob, sein befreiendes ansteckendes Lachen, die rötlichen Flecken, die sich auf seinem Hals bildeten, wenn er sich intensiv auf etwas konzentrierte... Verdammt, man könnte fast meinen, sie hatte es darauf angelegt, ihn so ausführlich zu studieren. Der Junge war sechzehn, kaum älter als ihr kleiner Bruder! Aber wenn sie allein waren, war es zwischen ihnen anders. Er hatte ihre Sinne in Wallung gebracht, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Sie war sowas von armselig.

Das quälende Schuldgefühl vermieste ihr an dem Abend nicht nur den Kinofilm gründlich.

Ihr rationaler Problemlösungsansatz war es, sich nun erst recht in Dennis zu verlieben. Er war passend für sie, und er war offensichtlich willig. Volle Kraft voraus hatte sie es versucht, sich hineingestürzt und ihr Bestes gegeben. Es hatte nicht funktioniert. So gern es Sabrina auch so wollte, ihre Gefühle hatte sie nicht rational steuern können.

Heute, sechs Monate später, mit vom Wein umnebeltem Verstand, gestand sie sich zum ersten Mal ein, dass sie Julian schmerzlich vermisste.

Frustriert trank sie einen weiteren Schluck. Der Film war inzwischen vom nachfolgenden abgelöst worden, ohne dass sie das Ende des ersten mitbekommen hatte.

Julian. Das Drama des Abends war noch nicht zu Ende gewesen.

Als sie mit Dennis nach dem Kino bei einem alkoholfreien Weizenbier in einer Bar saß – wohlweislich nicht in der, die ihr Bruder ihr genannt hatte – rief Max sie an. Die Tatsache an sich war schon ungewöhnlich. Eigentlich bevorzugte er Textnachrichten. 

Er sagte ihr, dass sie nun doch nicht bei Julian schliefen. Okay, das musste sie wissen, dann sollte sie Dennis nicht mitbringen, soviel war klar. Aber für eine solche Info hätte er ihr normalerweise in knappen Worten geschrieben oder allenfalls eine abgehackte Sprachnachricht geschickt. Nun fing er aber an zu quatschen, wollte wissen, wie ihr Abend verlief. Da stimmte was nicht. Als er dann noch meinte, dass sie sich mit dem Nach-Hause-Kommen ruhig Zeit lassen sollte, war sie endgültig alarmiert. Zumal sie glaubte, eine gewisse unterdrückte Panik in der Stimme ihres Bruders herauszuhören. Max war nie panisch. Er war die Ruhe und Ausgeglichenheit in Person. Da war etwas ganz gehörig nicht in Ordnung.

"Wo seid ihr denn jetzt gerade?", fragte sie unverbindlich.

"Na, zu Hause, hab' ich doch gesagt, oder?"

Liebe(r) ohne PlanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt