"Oh, wow, das ist aber doch ganz schön hoch. Das hier ist was anderes als der Kletterspot am Jugendzentrum, da gab keine Wände von über zehn Metern."
"Keine Sorge, das Prinzip ist genau das gleiche, egal, wie hoch es ist. Und wenn du erst einmal unterwegs bist, wirst du nicht mehr an die Höhe denken, sondern nur noch die Griffe und Tritte vor deiner Nase sehen."
"Na, wenn du das sagst..." Die Zweifel waren Lisa deutlich anzuhören. Sabrina war jedoch unbesorgt. Wäre Lisa ein Kandidat für Höhenangst, dann hätte die sich auch auf zehn Metern schon bemerkbar gemacht.
Die Halle lag etwas außerhalb des Stadtzentrums. Es handelte sich um ein ehemaliges Fabrikgebäude mit einer Deckenhöhe von geschätzt zwanzig Metern. An den Wänden waren aus verschieden geformten Plastikgriffen in diversen Schwierigkeitsgraden Kletterrouten verschraubt, an deren höchstem Punkt jeweils ein Seil eingehängt war, dessen beide Enden bis zum Boden reichten.
Da Lisa Anfängerin war, klettern sie ihre Routen in dieser sogenannten Top-Rope Variante.
Früher hatte Sabrina auch den fortgeschritteneren Vorstieg beherrscht, bei dem man das Seil während des Kletterns selbst mit nach oben nahm und es unterwegs alle paar Meter eigens in einer Zwischensicherung einhakte. Nach der langen Pause war auch sie jedoch froh, sich zunächst auf das auch für Anfänger geeignete, weniger Mut erfordernde Top-ropen beschränken zu können. Der am Boden verbleibende Sicherungspartner brauchte hierbei nur jeweils synchron zum Kletterer immer die Länge an Seil entsprechend der Vorgaben aus dem Einführungskurs durch sein Sicherungsgerät zu ziehen, die der Kletterer hinaufstieg.Sie merkte schnell, dass sie technisch zwar nichts verlernt hatte, jedoch einiges ihrer damaligen Muskelkraft und Gelenkigkeit eingebüßt hatte. Sofort war ihr Ehrgeiz geweckt, das alte Leistungsniveau wieder zu erreichen. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren fühlte sie sich eindeutig zu jung um bereits nachzulassen. Sie liebte die sportliche Herausforderung, und das selbst gesetzte Ziel lieferte ihr den nötigen Ansporn.
Lisa war eine angenehme Partnerin. Es war unerheblich, dass sie und Sabrina auf einem unterschiedlichen Leistungsniveau kletterten. Lisa beherrschte den Umgang mit dem Sicherungsgerät, das allein zählte. Und sie war mutig. Mit einiger Erfahrung und regelmäßigem Training würde sie schnell Fortschritte machen.
Im Anschluss genehmigten sie sich einen Milchkaffee im Service-Bereich der Kletterhalle. von dort hatte man einen hervorragenden Ausblick auf die aktiven Sportler.
„Vom Klettern bekommt man definitiv einen gut trainierten Körper", sinnierte Lisa beeindruckt. Sabrina konnte ihr nur recht geben. Viele der überwiegend männlichen Kletterer sahen wirklich ziemlich gut aus. Aber nicht so gut wie Julian, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf.
Immer wieder Julian. Sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Max hatte ihn seit dem Jahreswechsel leider mit keiner Silbe erwähnt. Obwohl er sich doch wahrscheinlich denken konnte, wie sehr sie darauf brannte, wenigstens zu erfahren wie es ihm ging.
Wenn Lisa nicht ihre einzige vielversprechende Informationsquelle wäre, dann würde sie sich garantiert nicht die Blöße geben, sie jetzt auszuhorchen. Eigentlich hätte sie auch viel lieber Julian selbst gefragt. Aber das stand ja leider nicht zur Debatte. Sie fasste sich also ein Herz und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen.
„Hast du in letzter Zeit etwas von Julian gehört?"
Sie wusste nicht, wie viel Max Lisa über die aktuelle Entwicklung zwischen ihr und ihm erzählt hatte. Wenn Max gegenüber seiner Freundin nicht wesentlich mitteilsamer war als gegenüber seiner Schwester, dann hatte er Lisa wahrscheinlich gar nichts gesagt und auch keine Andeutungen verlauten lassen. Trotzdem konnte Sabrina wohl kaum zugeben, dass zwischen ihr und Julian derzeit totale Funkstille herrschte, ohne unweigerlich Lisa eine Erklärung liefern zu müssen.
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Liebe(r) ohne Plan
RomanceKann man aktiv steuern, in wen man sich verliebt? Gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit für verpasste Chancen? Sabrina ist zweiundzwanzig Jahre alt und hat eigentlich immer für alles eine Lösung parat. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter war sie sch...