Meine Schwestern holen mich im Morgengrauen ab. Bei ihrem gestrigen Besuch habe ich schließlich zugesagt. Ich habe mein langes Zögern damit entschuldigt, dass ich mich vor der Reaktion meines Vaters fürchtete, wenn ich den „Traum meines Lebens", so meine Worte, lebte. Ich habe mit allem argumentiert, was sie von dem möglichen Gedanken abbringen könnte, dass es einen weiteren Grund für meine anfängliche Ablehnung geben könnte. Und sie haben mir ohne Nachfrage geglaubt.
Als sie dann endlich gegangen waren, nicht ohne mir eine Liste mit notwendigen Dingen dazulassen, die ich sofort am Abend packen sollte, sprach ich erst mit Margot und dann mit meinem Vater. Es tat weh zu sehen, wie sehr er unter dieser Situation litt, aber er bescheinigte es mir als richtige Entscheidung. Unserem Hausmädchen nahm ich das Versprechen ab, sich noch mehr als bisher um Papa zu kümmern. Mir selbst wurde das Versprechen abgenommen, weiter die Verträge zu schreiben und mich oft blicken zu lassen.
„Du hast alles gepackt?", fragt Esther und reißt mich so aus meinen Gedanken an den vergangenen Abend. Ich nicke. Meine Schwester begutachtet meine Gepäckstücke und weist die beiden Diener an, die Kleidertruhe auf die Kutsche aufzuladen. „Was ist darin?" Sie deutet auf die kleinere Kiste, die ich mir unter den Arm geklemmt habe. Sie ist aus Holz, schlicht und lässt sich mit einem Schlüssel abschließen. Den Schlüssel trage ich um den Hals.
„Erinnerungsstücke", lüge ich und damit gibt sie sich zufrieden. In Wahrheit enthält die Kiste zwei Schreibfedern, mehrere Bögen Papier, ein Tintenfass, ein kleines Messer zum Anspitzen der Feder, Siegelwachs, Sand und das königliche Siegel. Wie ich meinem Vater versprochen habe, werde ich nicht aufhören, die Arbeit für ihn zu erledigen.
Ich trage wieder die Handschuhe, die verbergen sollen, dass ich schreibe. Auch als gestern noch die beiläufige Frage fiel, ob ich lesen könne, verneinte ich. Ich tat es zum Schutz meines Vaters, doch wie sich herausstellte, wünscht Prinz Eventus auch nicht, dass seine Hofdamen lesen können. Was auch immer der Grund dafür sein mag.
Die Lakaien haben nun mein gesamtes Gepäck verstaut und helfen mir nach meinen Schwestern in die Kutsche. Sie ist auch von innen wunderschön mit dunkelblauen Polstern und einer cremefarbenen Tapete ausgekleidet. Ich komme mir in meinen schlichten, fast abgewetzten Kleidern, fehl am Platz vor.
„Henrietta und ich haben uns etwas überlegt", beginnt Esther, kaum dass die Kutsche sich mit einem sanften Ruckeln in Bewegung gesetzt hat. „Du kannst unmöglich deinen wirklichen Namen behalten. Wie du weißt, nenne ich mich seit acht Jahren Ernestine und Henna ist Henrietta. Ein Name sagt viel über die Person und unsere Namen sagen leider, dass wir von Geburt her von einem niedrigen Rang sind. Edle Damen verdienen einen eleganten Namen, wenn er auch dem wirklichen ähnlich ist. Martha ist also ab heute Geschichte."
Ich schlucke. Ich mag meinen Namen. Aber vielleicht ist es besser so. Je mehr ich mich in die Rolle der Hofdame ergebe, desto ferner scheint die Vermutung, dass ich Tätigkeiten nachgehe, die nicht erwünscht sind. „Hast du einen Vorschlag?"
Esther brütet eine Weile. „Mhm, wenn wir den Anfang deines Namens beibehalten, dann... Vielleicht Marlies? Wobei, das klingt auch nicht viel edler. Margarete? Aber so heißt schon die junge Baroness von Wolmoor und wir wollen ja nicht, dass es sich doppelt..." Ein Lächeln schleicht sich auf Hennas Gesicht. „Wie wäre es mit Marlene? So heißt noch keine andere Dame und es passt sehr gut zu dir, Martha."
Ich nicke stumpfsinnig vor mich hin. Mir ist egal, wie man mich nennt. Es wird nie mein Name sein. „Marlene klingt sehr schön", stellt Esther zufrieden fest. Und damit verliere ich ein weiteres Stück meiner Identität.
Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Alles andere könnte sich die Königsfamilie bei ihrem Hofschreiber auch nicht leisten. Wir passieren das Tor und gelangen auf die andere Seite der streng bewachten, hoch aufragenden Mauer. Mir verschlägt es den Atem. Obwohl sich der Palast in Cala, der Hauptstadt und größten Metropole Calias befindet, ist mir, als würde ich in eine völlig fremde Provinz eintauchen. Edelste Geschäfte reihen sich diesseits der Mauer aneinander, bereit dafür, nur die edelsten Kunden zu bedienen, während jenseits der Mauer, von wo ich komme, der gewöhnliche Bürger kauft. Ich sehe eine Boutique, über der in goldenen Lettern die Worte „Hofschneiderei von Weser" prangt, daneben einen Hutladen, einen Schuhladen, zwei Schmuckgeschäfte, einen Blumenstand und sogar ein Atelier mit Staffeleien im Schaufenster. An einer Kreuzung entdecke ich Wegweiser Richtung Schmiede, Fleischerei und Bäckerei. Überall summt und brummt es, Frauen in schrillbunten, ausladenden Kleidern flanieren über die hell gepflasterte Allee, die eingerahmt ist von in Form gestutzten Bäumen. Doch so sehr sie auch alle beschäftigt sind mit sich selbst und ihren Unternehmungen, sie machen unserer Kutsche anstandslos Platz. Einige blicken uns sogar neugierig hinterher.
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Die Hofdame
Historical FictionDas Königspaar von Calia ist tot. Der Kronprinz ist durch einen gerichtlichen Prozess seines Amtes enthoben. Sein jüngerer Bruder wartet darauf, die Regentschaft anzutreten. In dieser Situation wird Martha Griffel von ihren Schwestern an den königl...