Kapitel 24 - Titus

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Ich sehe, wie ihr Gesicht erstarrt. Dann – wie in Zeitlupe – gleitet ihr der Henkel des Korbes aus den Fingern und dieser fällt scheppernd zu Boden. Was auch immer darin gewesen ist, Suppe vermutlich, ist nun eindeutig hinüber. Marlene hat ihre Hand vor den Mund geschlagen und zittert haltlos. Ihre Augen sind feucht. Egal, was ich mir vorgenommen habe, ich kann ihr nicht böse sein. Nicht, wenn sich mir bei diesem Anblick das Herz zusammenzieht. Ich habe das dringende Bedürfnis, sie aufzumuntern, irgendetwas zu sagen, damit es ihr besser geht. Doch darin habe ich weder Talent noch Übung.

Ich blicke Moritz hilfesuchend an, ernte jedoch den gleichen Blick von ihm. Meine Güte, hat er nicht genug Übung darin, Henrietta zu trösten? Schließlich turteln die beiden schon seit geraumer Zeit miteinander herum. Wie groß kann der Unterschied von einer Griffel-Schwester zur anderen denn sein? Ich schüttele über mich den Kopf und beantworte mir meine Frage selbst: Gewaltig. Diese Schwestern unterscheiden sich voneinander wie Tag und Nacht.

Ich atme tief durch und räuspere mich dann mangels einer einfühlsameren Idee forsch. Prompt ernte ich die vorwurfsvolle Mimik meines Freundes. Doch bevor ich ein schlechtes Gewissen bekommen kann, holt Fräulein Marlene ein paar Mal tief Luft und gewinnt so ihre Fassung wieder. Alle Achtung! Ich glaube, ich habe damals länger gebraucht, um zu verdauen, dass mein Bruder falsch gegen mich spielt, dass ich ihn nicht länger auf meiner Seite habe.

„Ich muss mich dann mal verabschieden", passt Moritz taktisch günstig den Moment ab, um zu verschwinden und nicht länger Teil dieser gespannten Atmosphäre zu sein. Und es ist für ihn auch nicht nötig, länger zu bleiben. Zwischen uns beiden ist alles geklärt und mit Marlene wird er zu jeder anderen Zeit ebenso reden können. Er drückt der Hofdame seine zweite Fackel in die Hand und eilt Richtung Ausgang.

Die Hofdame tritt näher an die Zellentür. Trotz der einfachen Küchenmädchen-Aufmachung sieht sie keineswegs schäbig aus. Irgendwie wirkt sie in diesen Kleidern sogar authentischer als in den fülligen Roben sonst. „Es tut mir leid", beginnt sie flüsternd. „Ich wollte wirklich nicht, dass Sie in diese Situation geraten, Hoheit. Ich fürchte, ich habe alles noch schlimmer gemacht."

Ich überlege, was ich darauf sagen soll. Natürlich ist meine momentane Position nicht gerade komfortabel. Vor einer halben Stunde war ich noch furchtbar sauer auf sie und habe sie für alles verantwortlich gemacht. Doch so sehr es meinen Stolz auch verletzt, ich muss zugeben, dass Moritz Recht hat. Eventus hätte kein weiteres Risiko mehr zugelassen. Ich wäre so oder so hier gelandet. Das Adelsregister als Beweisstück ist verloren, doch in bin nicht in der Position, in der ich mir erlauben könnte, vor mich hinzuschmollen. Ich spüre, dass da noch etwas kommt, dass sie mir noch etwas zu ihrem Handeln sagen kann. Und ich sollte zuhören.

Innerlich seufze ich. Ich klammere mich wirklich an jeden Strohhalm, den ich ergreifen kann, um nicht schlecht von ihr denken zu müssen. Und noch etwas anderes geht mir auf, jetzt, da sie keine Mühen und Risiken gescheut hat, zu mir zu kommen, um mit mir zu sprechen. Meine Situation scheint ausweglos. Dennoch würde ich nicht um eine Woche zurückspulen wollen. Diese kleine Person gibt mir aus irgendeinem dummen, unerfindlichen Grund Hoffnung. Immer noch. Hoffnung, die ich seit Jahren nicht mehr hatte. Seit wir uns nicht mehr hassen, habe ich das Gefühl, nicht mehr ganz so allein zu sein. Und das ist schön. Und es bereitet mir Kopfzerbrechen. Denn was mich am meisten verwirrt, ist, dass es mir etwas bedeutet, wie es ihr geht. Ich möchte sie nicht so traurig sehen.

„Sie haben nichts schlimmer gemacht", erwidere ich also und muss mich erst einmal räuspern, damit meine Stimme nicht so verdammt sanft klingt. Übertreiben muss ich es nun wirklich auch nicht. „Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir helfen wollten." Diese Worte klingen so hohl angesichts der Wertschätzung, die ich ihr aufgrund ihres Mutes wirklich entgegenbringe. Auch, wenn nicht alles so funktioniert hat, wie ich es gerne gesehen hätte. Sie blickt auf und ich sehe in ihr leicht verquollenes Gesicht, das einen entschlossenen Ausdruck trägt. „Helfen wollen", korrigiert sie mich in ihrer störrischen Art. „Nun erst recht, Hoheit." Ich runzele verwirrt die Stirn. „Sie wollen sich nicht ernsthaft gegen Ihre Schwester stellen, Edle Dame. Überlegen Sie sich das genau." Ich sage das nicht, weil ich sie für schwach halte, sondern weil ich mir gewünscht hätte, die Wahl zu haben, zu meiner Familie zu halten. Doch Marlene legt ihren Kopf schief und meint bestimmt: „Sie ist nicht meine Schwester, wenn sie die Werte verrät, die unser Vater uns mitgegeben hat. Lieber stelle ich mich gegen sie als gegen mich selbst." Ich kann nicht anders als sie zu bewundern. Und doch gibt es diesen Zweifel, dieses Detail in ihrem Verhalten, was sich mir nicht logisch erschließt und mich deshalb nicht loslässt.

Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt