Esther schreitet durch den kleinen Ballsaal wie eine Königin. Ich hätte gedacht, dass mein allgemeines Verhalten bisher äußerst unauffällig und wohlerzogen gewirkt haben musste, doch wie sich herausstellte, hatte mir Timo am ersten Tag nur die grundlegendsten Dinge beigebracht. Für mehr war auch in den folgenden Tagen keine Zeit gewesen, da ich mit Modellsitzen und der Vorbereitung auf den Ball beschäftigt war. Doch nun scheint der höfische Alltag wieder seinen Gang zu gehen. Für meine Schwestern bedeutet das, dass sie es an der Zeit sehen, mich in das nächste Level höfischer Etikette einzuweihen. Und das bedeutet, Französisch zu lernen.
„Eine Dame ist stets nur so elegant wie ihre Ausdrucksweise." Mit diesen Worten hatte Esther mich heute in aller Frühe in diesem Saal empfangen und gleich hinterhergeschoben: „Der Klang der französischen Sprache rühmt sich mit einer Schönheit, die keine Satzstruktur unserer Sprache auch nur annähernd erreichen kann. Aus diesem Grund empfiehlt es sich stets, à l'occasion ein paar wohlplatzierte Worte und Phrasen einzuwerfen."
Für die heutige Lernstunde sind absolut keine Mühen gescheut worden. Eine sehr lange Tafel erstreckt sich über den Raum, gedeckt mit feinem Geschirr und jedem nur denkbaren Accessoire. Denn heute – so meine Schwester – widmen wir uns ganz den Vokabeln fürs Dinieren. Die Rollenverteilung ist dabei die gleiche wie üblich: Esther prahlt mit ihrem Wissen, Henna wirft mehr oder weniger sinnvolle Kommentare und Eselsbrücken ein und ich bin die einzig Dumme, für die sich jedes Wort gleich anhört.
„Der Ranghöchste hat das Recht, le bout de table einzunehmen", erklärt meine älteste Schwester gerade. Sie steht am Kopfende des Tisches um mir zu verdeutlichen, was le bout irgendwas bedeuten soll. Ich nicke gewissenhaft. „Also, sprich mir nach, Marlene: Le bout de table." Ich murmele etwas vor mich hin, was sich nicht mal halb so elegant anhört wie bei Esther und schreite ebenfalls langsam die Tafel entlang. Unter meinem Rock schlägt das Adelsregister leicht an mein Bein. Ich habe mir angewöhnt, das schwere Buch überall mit hinzunehmen. Es ist mühsam und anstrengend und verursacht einige blaue Flecke, aber das ist mir allemal lieber, als es allein in meinen Gemächern zurückzulassen. Bettina ist so gründlich im Saubermachen, dass sie es früher oder später finden und Fragen stellen würde. Und das will ich um jeden Preis vermeiden.
„Wenn du bei deinem Stuhl bist, kannst du natürlich einfach Stuhl sagen, viel feiner klingt jedoch la chaise. Ich nicke mechanisch. „La Schääs", wiederhole ich und ernte einen pikierten Blick. Henna wirft eilfertig ein: „Es ist wie in Chaiselongue. Das heißt nämlich übersetzt langer Stuhl." Ich schenke ihr ein Lächeln, obwohl mein Kopf zu sehr brummt, um diesen Kommentar irgendwie hilfreich zu finden. Nacheinander lasse ich le laquais, le chandelier, une assiette und la flûte über mich ergehen und beschließe, niemals Französisch zu reden. Denn egal, wie unelegant meine Ausdrucksweise auch klingen mag, immerhin mache ich mich in meiner eigenen Sprache nicht lächerlich, weil ich Teller und Tafelleuchter verwechsle.
Der Unterricht dauert an. Esther zeigt keine Zeichen von Ermüdung, im Gegenteil. Ihr Wissen scheint sie geradezu zu beflügeln. Ich versuche, mich nach außen hin gelassen und aufmerksam zu geben, aber innerlich bin ich ein Nervenbündel. Seit das Adelsregister in meinem Besitz ist, schwirrt mein Kopf vor lauter anderen Gedanken. Wie lange wird es dauern, bis Eventus dahinterkommt? Wie kann ich es unauffällig anstellen, Theodora zu besuchen? Zudem verlasse ich seitdem ungern mein Zimmer, aus Angst, es könnte in meiner Abwesenheit durchsucht werden. Französischunterricht, Etikette, Reiten, Stammbäume und Historie sind für mich nicht nur unwichtig und lästig, sondern schlichtweg zeitraubend und riskant.
Innerlich bete ich um Erlösung und darum, Esthers gewissenhaftem und gnadenlosem Blick zu entkommen. Doch als mein Bitten erhört wird, bin ich nicht froh und erleichtert, sondern zu Tode erschrocken. Denn es ist meine Zofe, die völlig aufgelöst und verunsichert in den kleinen Ballsaal stürmt und schlitternd vor mir zum Stehen kommt.
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Die Hofdame
Historical FictionDas Königspaar von Calia ist tot. Der Kronprinz ist durch einen gerichtlichen Prozess seines Amtes enthoben. Sein jüngerer Bruder wartet darauf, die Regentschaft anzutreten. In dieser Situation wird Martha Griffel von ihren Schwestern an den königl...