Kapitel 32 - Martha

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Kassandra greift zielsicher nach ihrem weißen Springer und befördert somit meinen Läufer vom Spielfeld. Ungläubig blicke ich zu der Reihe an schwarzen Figuren, die sich bereits am Rand des Schachbretts aufreihen. „Ich wusste gar nicht, dass dieser Spielzug gültig ist...", meine ich perplex und meine Gegnerin lacht. „Natürlich wusstest du, dass er gültig ist. Du wolltest wohl sagen, dass du niemals darauf gekommen wärst, mit meinem Springer deinen Läufer zu schlagen." Sie reibt sich vergnügt die Hände und ich fahre mir verzweifelt durchs Haar.

Kassandra ist älter als ich, vielleicht so um die Dreißig, und genau wie ihre Schwester Theodora eine beeindruckende Erscheinung. Beide haben rabenschwarzes Haar und eine schlanke Figur, feine Gesichtszüge und ein strahlendes Lächeln. Doch so ähnlich sie sich auch äußerlich sind, so unterschiedlich sind sie in ihren Charakteren. Theodora hat mir von Anfang an aufmerksam zugehört. Sie hat eine Sanftheit an sich, die bewirkt, dass ich mich in ihrer Gegenwart sehr wohlfühle. Darüber hinaus kann sie jedoch auch sehr bestimmt sein und ich habe es mehr als einmal erlebt, dass der Fürst unter ihrem unerbittlichen Blick nachgegeben hat. Kassandra hingegen ist innerlich ein Kind geblieben. Sie findet Freude daran, andere zu necken, ist neugierig und sagt geradeheraus, was sie denkt. Sie lässt sich gern verwöhnen und hat einen Hang zu Albernheit, aber in solch einem Maße, dass es liebenswürdig erscheint. Ich bewundere ihre Lebensfreude, denn eine Gehbehinderung verwehrt es ihr, selbstständig zu sein. Wann immer sie den Ort wechseln möchte, trägt ihr Mann sie. Die beiden gehen so zärtlich miteinander um, als wären sie frisch verliebt und Theodora hat mir verraten, dass er darauf besteht, der Einzige zu sein, der sie tragen darf.

Titus und ich, wir sind hergekommen, um Hilfe zu bekommen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Einen strengen Fürsten, den ich tagelang bearbeiten muss. Eine ehemalige Hofdame, die ein klein bisschen herrisch und eingebildet ist – das war der Eindruck, der aus meiner Kindheit hängengeblieben ist. Doch das, was ich vorgefunden habe, ist eine Familie. Eine große Familie, zu der nicht nur der Fürst, die Fürstin und ihre beiden Kinder zählen, sondern eben auch Kassandra und ihr Mann, der auf dem Gut Kroesus Stallmeister ist, sowie all die Bediensteten, die sich viel mehr herausnehmen dürfen, als jene im Palast. Hier scheint es egal zu sein, welchen Rang man bekleidet. Und so ist es mir überhaupt nicht komisch vorgekommen, dass die Schwestern von Anfang an Du zu mir gesagt haben und der Fürst irgendwann einräumte, wir könnten uns doch zumindest beim Vornamen nennen. Bei Titus hingegen ist es keine Selbstverständlichkeit gewesen. Er ist anders aufgewachsen, der Palast ist insgesamt ein viel kälterer, unfreundlicherer Ort. Und so kommt es mir sehr intim vor, wie ein Meilenstein, dass ich nun auch ihn duzen darf.

„Martha, deine Schachfiguren schlafen gleich ein", holt mich Kassandra ungeduldig aus meinen Gedanken und ich schiele wieder auf das Brett. Ich habe in meiner Kindheit nie Schach gespielt und bin jetzt, wo meine Gegenspielerin es mir beibringen möchte, einfach nur furchtbar schlecht darin. Kurz entschlossen setze ich einen Bauern am Rande des Spielfeldes, der mir nicht viel bringt, aber auch nicht viel Schaden anrichten kann. Kassandra seufzt. „So wird das nie etwas. Du musst ein bisschen taktischer denken, mehr ausprobieren und riskieren." Ich werfe einen Blick ans andere Ende des Gesellschaftszimmers, wohin Theodora sich mit einem Buch über rechtliche Normen in Calia zurückgezogen hat. Sie wirft mir über die Seiten hinweg einen verständnisvollen Blick zu und rollt mit den Augen.

„Konzentriere dich nicht auf Dora", schimpft Kassandra sogleich mit mir. „Konzentriere dich auf das Spiel. Mein Vater hat immer gesagt: ‚Schach ist das Spiel der Könige. Wer dieses Spiel gewinnt, kann ebenso ein Reich führen.' " Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und verschränke die Arme vor der Brust. „Selbst wenn dieser Satz der Wahrheit entspräche, so könnte er mir doch herzlich egal sein, denn ich habe nicht vor, irgendwann in meinem Leben mal ein Reich zu führen." Kassandra kichert und ich sehe, dass ihr ein Kommentar auf der Zunge liegt. Tatsächlich platzt sie auch sogleich heraus: „Wenn das so ist, meine Liebe, hast du dir vielleicht den falschen Mann ausgesucht." Mein Gesicht wird heiß und mit Sicherheit knallrot. In ihrer Ecke schlägt Theodora mit einem lauten Klatschen ihren Wälzer zu. „Das reicht jetzt aber, Sandra! Wir verzeihen dir ja nun wirklich fast alles, aber du musst nicht unsere Gäste in Verlegenheit bringen." Ich räuspere mich verlegen. „Natürlich unterstütze ich Titus, aber in diese... Richtung, habe ich bei ihm absolut noch nicht gedacht." Was nicht so ganz stimmt. Die vergangenen Tage, als ich mich um ihn gekümmert habe, ist mir aufgegangen, dass er mir inzwischen auch als Person etwas bedeutet, nicht nur als zukünftiger König. Diese Erkenntnis hat mich ein wenig ins kalte Wasser geworfen und ich habe mich gefragt, wann genau sich diese leichte Zuneigung zu ihm hat entwickeln können. Am Anfang war er unverschämt und ich habe ihn gehasst. Dann haben wir uns der Gerechtigkeit zuliebe zusammengetan, was nicht bedeutet hat, dass er viel freundlicher gewesen wäre. Dann war er im Kerker und jetzt sind wir hier. Rein objektiv gesehen ist nie Platz für Gefühle gewesen. Und doch meine ich, viele Seiten an ihm zu kennen. Seinen unterschwelligen Humor, sein Verständnis, seine Sanftheit und Ehrlichkeit. Diese Eigenschaften kenne ich an ihm. Und doch ist es zu früh zu sagen, ich hätte ihn mir ausgesucht.

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