Ich starre auf die große Tür aus dunklem Holz und mit goldenen Beschlägen. Sie ist das einzige, was mich noch von der Flut an Menschen und der Aufmerksamkeit trennt, die mir entgegenschwappen werden, sobald ich den Ballsaal betrete. Nervös streiche ich über mein rotes Kleid. Da ich nichts von Mode verstehe, konnte ich mir keinen Reim auf die Instruktionen machen, die Esther der Schneiderin diktierte. Davon abgesehen fehlte es mir an Interesse. Und nun stehe ich da in einem ausladenden Ungetüm, das jede Hoffnung darauf zunichtemacht, irgendwann ungesehen in der Menge verschwinden zu können.
Ich bin tatsächlich erschrocken, als Bettina mich vorhin strahlend vor den Spiegel schob. Im ersten Moment habe ich mich nicht erkannt. Meine langweiligen mittelbraunen Haare, die viel zu oft zur Widerspenstigkeit neigen, türmen sich nun in glänzenden Locken auf meinem Kopf. Passend zu den wallenden Stoffen, die nach Aufmerksamkeit schreien, hatte sie mir fünf rote Stoffrosen ins Haar geklemmt, von denen sie drei wieder entfernen musste, da ich sie als zu viel empfand. Das einzige an meiner Aufmachung, was mir einigermaßen zusagt, ist das Kropfband aus schwarzer Spitze, welches vergleichsweise unaufdringlich etwas Ruhe in mein Äußeres bringt.
Meine Schwestern waren entzückt gewesen über meinen Aufzug. Esther lobte sich selbst, für mich das richtige Kleid ausgewählt zu haben. Das schien für sie Grund genug, heute nicht mit neidischen Blicken um sich zu werfen, sondern ausnehmend gut gelaunt zu sein. Darüber hinaus denke ich jedoch, dass sie überaus zufrieden mit ihrer eigenen Garderobe ist. Zu meiner Linken steht sie aufrecht da wie die Königin der Nacht. Ihr tiefblau marmoriertes Kleid lässt ihren Teint erstrahlen und unzählige Perlen heben sich von ihrem dunklen Haar ab wie Sterne von einem Nachthimmel. Henna – die mich zu meiner rechten Seite flankiert – bildet einen offensichtlichen Kontrast zu ihr. Das helle Haselnussbraun ihrer Haare harmoniert vorzüglich mit dem pfirsichfarbenen Kleid, das wohl von so viel Rüschen, Spitzenborten und Schleifen verziert wird wie die Roben von mir und Esther zusammen. Sie schwebt umher wie eine Wolke aus Zuckerwatte und sieht dabei, zu meinem Erstaunen, kein bisschen lächerlich aus. Ihre Frisur ist nicht wie bei uns beiden nach oben hin aufgetürmt, sondern kringelt sich in geordnetem Chaos um ihre vor Aufregung geröteten Wangen.
„Bist du bereit?", fragt meine jüngere Schwester hibbelig. Esther hingegen ist die Ruhe in Person. „Natürlich ist sie bereit", erwidert sie an meiner Stelle, doch nicht streng und bevormundend wie sonst so oft, sondern ein kleines Stück vertrauensvoll. Auf ein Nicken ihrerseits greifen die beiden Lakaien nach den goldenen Türgriffen und eröffnen mir den Blick auf eine Welt, die mich in Staunen versetzt.
Augenblicklich werde ich von dem gigantischen Ballsaal verschluckt der – so sehe ich erst auf den zweiten Blick – schon durch seine ovale Form überaus außergewöhnlich ist. Helle Tapeten reflektieren das Licht tausender Kerzen, die auf goldenen Kronleuchtern und Kandelabern überall im Raum verteilt sind. Um den gesamten Raum ziehen sich mehrere Emporen, ähnlich wie in einem Opernhaus, auf denen sich bereits vereinzelt prunkvolle Menschen tummeln. Doch der Mittelpunkt der Festlichkeit findet direkt vor meinen Augen und um mich herum statt.
Menschen, so weit das Auge reicht. Herren in eleganten Fracks und Mänteln, Frauen, die ihre Modeverirrungen am Leib tragen und zwischendrin eine Unzahl an Bediensteten, die Champagnerflöten reichen. Die jüngeren Leute stehen meist zu zweit zusammen und verlieren sich in ihrem Flirt, während die älteren Herren sich bei gewichtigen Gesprächen bedeutsam fühlen und die beleibteren Personen bereits das lange Buffet inspizieren. Ein Orchester versucht, mit leicht dahinplätschernder Dinnermusik die Oberhand zu behalten, was in dem Wust an Stimmen und Lachen schier unmöglich ist. Der Raum ist bereits jetzt erfüllt von dem stickigen Geruch nach Schweiß und schweren Parfüms, obwohl am gegenüberliegenden Ende des Saals eine geöffnete Glastür dazu einlädt, auf der Terrasse Luft zu schnappen.
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Die Hofdame
Historical FictionDas Königspaar von Calia ist tot. Der Kronprinz ist durch einen gerichtlichen Prozess seines Amtes enthoben. Sein jüngerer Bruder wartet darauf, die Regentschaft anzutreten. In dieser Situation wird Martha Griffel von ihren Schwestern an den königl...