Kapitel 26 - Martha

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Der kleine, offene Pavillon mit quadratischer Grundfläche befindet sich nah am Palast. Eine goldene, zwiebelförmige Kuppel thront auf dem ebenfalls quadratischen Dach wie eine Krone und strahlt im hellen Sonnenlicht. Aus dem Orientalischen entlehnte Muster und Reliefs ziehen sich um die vier tragenden Säulen und geben der gesamten Szenerie etwas fremdländisch Anmutendes. Gemeinsam mit den großen Zelten aus weißen, flatternden Stoffbahnen wirkt es fast, als hätte eine Karawane ihr Lager aufgeschlagen. Der Duft der ringsherum sorgfältig gepflanzten Rosen vermischt sich mit dem zimtig-herben Geruch des Tees, der fleißig an die Damen ausgeschenkt wird. Die Herren begnügen sich bereits am frühen Nachmittag und auch bei diesen Temperaturen mit einem Portwein.

Das Bild, welches sich mir bietet, vermittelt eine Idylle, die ich in meiner gesamten Zeit im Palast noch nicht erlebt habe. Jegliches Reglement scheint in den Hintergrund zu treten. Die Menschen sind hier, um sich wohlzufühlen. Es ist ein grotesker Gegensatz zu dem überbordenden Ball voller Reizüberflutungen oder einem steifen Dinner. Vor allem aber ist es die frevelhafte Missachtung der aufkeimenden Missstände.

Einen Moment lang bin ich völlig überfordert und weiß nicht, wohin mit mir. Die Adligen stehen in kleinen Grüppchen zusammen und plaudern, ihre Stimmen werden vom Wind an mein Ohr getragen, unterstrichen von sanfter Streichermusik. Ich fühle mich nicht willkommen – schlimmer noch, ich fühle mich nach all der Zeit immer noch fremd in dieser Gesellschaft. Bisher haben Esther und Henna mir den Weg geebnet zu belanglosen Bekanntschaften, mit denen ich die Zeit und das Gefühl von Alleinsein vertreiben konnte. Doch selbst, wenn ich nicht mit beiden zerstritten wäre, würde das heute nicht funktionieren. Sie stehen ebenso am Rande wie ich. Niemand möchte sich in diesem Moment die heuchlerische Idylle von den Griffel-Schwestern kaputt machen lassen. Von denen, die am tiefsten in der ganzen Misere stecken. Die, bei denen man nicht weiß, wie man nun mit ihnen umgehen soll.

Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, in der ich einfach exponiert am Rande stehe, ehe ich Moritz auf mich zukommen sehe. Tatsächlich bin ich noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen, wie in diesem Moment. Und es fühlt sich fast vertraut an, dass er mir eine Tasse des stark parfümierten Tees in die Hand drückt und mich ein wenig von den neugierigen Adligen abschirmt. „Es tut mir leid, dass sie so furchtbar sind", meint er leise und schenkt mir ein trauriges Lächeln. Ich trinke einen Schluck Tee, der tatsächlich besser schmeckt, als er riecht. „Es muss Ihnen nicht leidtun, denn Sie sind der Einzige, der sich nicht so verhält", entgegne ich. Er nickt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass seine Aufmerksamkeit jemand anderem gilt. Ich folge seinem Blick. Esther und Henna.

Meine älteste Schwester starrt verkniffen ins Leere. Auch wenn sie sich aufrecht hält, sehe ich ihr an, dass dieses Gartenfest für sie die Hölle ist. Ohne Zweifel fragt sie sich gerade, welchen Wert sie als Hofdame hat, wenn ihre Gesellschaft niemandem mehr angenehm ist. Denn – das habe ich in der letzten Zeit gelernt – Esther denkt ausschließlich in den Kategorien wertvoll und wertlos. Henna steht direkt neben ihr und wirkt trotzdem einsam. In ihrer rücksichtsvollen Art will sie Esther nicht allein lassen, aber richtig wertgeschätzt wird ihre Solidarität auch nicht. Henna hätte es vermutlich am einfachsten, in ein Gespräch hineinzufinden, denn ihrer großherzigen Art können nur sehr wenige verschlossen gegenüberstehen. Doch – und das fällt mir in diesem Moment mehr auf als bisher – es ist Hennas Stärke, das Leid anderer mitzutragen, gerade dann, wenn es auch ihr eigenes Leben schwerer macht.

„Ich wünschte, sie wüsste mehr", meint Moritz traurig. Seine Zuneigung für meine zweite Schwester ist nicht zu übersehen. Ich streiche mir unsicher über mein Kleid. Ich habe mich in den letzten Stunden unaufhörlich gefragt, ob ich Henna nicht vielleicht unterschätze, ob ich ihr mehr zutrauen könnte, die Wahrheit zumuten könnte. Doch wie sehr ich auch alles durchdenke, ich habe den Moment verfehlt, in dem ich sie hätte einweihen können. Ich habe sie an einen Punkt gebracht, an dem sie mir nicht mehr vertraut, an dem sie auch Moritz nicht mehr vertraut. Im Prinzip kennen wir uns inzwischen viel zu wenig, um uns noch vertrauen zu können. Jahre, in denen sie mit Esther zusammengelebt hat und ich mit unserem Vater, haben uns einander entfremdet. Selbst wenn sie alles glauben würde, wüsste ich nicht, ob sie sich gegen ihre älteste Schwester stellen könnte.

Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt