Kapitel 7 - Titus

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Eine halbe Stunde ist vergangen, ehe Eventus die Gemächer des Fräuleins wieder verlässt. Ich weiß nicht, warum es mich stört, dass er sie aufsucht. Vor allem vermutlich deshalb, weil er mich im Auge behält. Sie ist die Person, mit der ich seit Jahren zum ersten Mal wieder gesprochen habe. Zumindest die erste, von der er weiß. Für mich ist es eindeutig, dass es da drin um mich ging. Ein weiterer Grund, warum es mich stört, ist, dass ich es nicht mag, Leute falsch einzuschätzen. Und sie hielt ich bisher komischerweise für eine Person, die sich nicht so leicht instrumentalisieren lässt. Doch der vergnügte Gesichtsausdruck meines Bruders, als er sie verlässt, sagt mir klar, dass er genau das bekommen hat, was er wollte.

Im Palast ist es bereits dunkel geworden, die Gänge sind nur noch spärlich von Kerzenlicht beleuchtet. Es ist die Zeit, zu der ich bisher ausschließlich im Schloss unterwegs war, nicht tagsüber, sondern nachts. Doch das hat sich seltsamerweise verändert. Seitdem ich diese neue Hofdame, über die ich inzwischen durch das Flurgeflüster der Dienerschaft weiß, dass sie Marlene heißt und bereits zwanzig Jahre alt ist – für eine neue Hofdame relativ alt, als Tischdame meines Onkels gesehen habe, hatte ich irgendwie das Bedürfnis, sie meine Abneigung spüren zu lassen. Ich wollte, dass sie sich schlecht fühlt, so wie ich mich schlecht fühle, wenn ich ihre manipulativen Kniffe beobachte. Doch es ist anders gekommen, als ich mir das vorgestellt habe. Zum einen musste ich überrascht feststellen, dass sie durchaus mit ihrer zierlichen Gestalt und einem hübschen Gesicht aus der Nähe über einige äußerliche Reize verfügt. Das konnte ich beobachten, während sie komplett in die Betrachtung der abscheulichen Rosentapete versunken war. Doch die größere Überraschung bestand darin, was aus ihrem Mund kam. Unkonventionell war das erste Wort, das mir diesbezüglich eingefallen war. Seit heute nenne ich es schlagfertig. Es ändert nichts daran, dass sie ebenso dumm ist wie all die anderen Menschen bei Hof, denn sie lässt sich ganz genauso einlullen und hinterfragt so wenig wie all die anderen das, was hier gespielt wird. Und doch kann ich nicht leugnen, dass es mich irgendwie beeindruckt, oder mir zumindest ein gewisses Amüsement bereitet.

Ich fahre mir durch meine viel zu langen Haare, bemüht darum, meine Gedanken zu ordnen und meinen Eindruck zu konkretisieren. Irgendetwas an ihr ist anders. Darüber hinaus, dass sie so vorlaut und unfreundlich sein kann wie ich. Einen Moment muss ich nachdenken, ehe ich draufkomme. Das Gespräch über die Clowns. Sie hat sich nicht angegriffen gefühlt. Im Gegenteil, sie hat mir beigepflichtet. Ernestine wäre an die Decke gegangen, wenn jemand ihr gegenüber so über die Position sprechen würde, der sie so viel Bedeutung beimisst. Und Henrietta hätte geschaut wie ein trauriges Reh und sich gefragt, wie ein Mensch nur so viel Schlechtigkeit besitzen kann, dass er andere beleidigt. Marlene hingegen schien es fast kalt zu lassen. Und das bringt mich zu der Annahme, dass sie die Stellung nicht innehat, weil sie sie will.

‚Verdammt, Titus', schimpfe ich mit mir selbst. Ich bin gerade dabei, mich in etwas zu verrennen. Hat sie es geschafft, mich einzuwickeln? Interpretiere ich etwas in sie hinein, was gar nicht da ist? Vielleicht ist ihre Scharfzüngigkeit ja doch ein kleiner Hauch von Intelligenz. Zumindest würde das erklären, warum mein Onkel sich mit ihr unterhalten hat. Sie muss irgendetwas gesagt oder getan haben, was ihn beeindruckt hat. Aber selbst, wenn sie mir irgendwie von Nutzen sein könnte, sie würde mir niemals helfen. Sie würde vor allem niemals auf die große Entdeckung stoßen, die ich monatelang gesucht, aber nicht gefunden habe. Schon gar nicht in der Bibliothek, sie ist schließlich Analphabetin.

Es macht mich fertig zu sehen, wie weit ich schon gekommen bin. Meine Hoffnung wächst tatsächlich durch eine Frau, die ein bisschen unfreundlicher ist als alle anderen, die mir deutlich an den Kopf wirft, dass ich ein Vergewaltiger bin und die mich über die Maßen ablehnt. Ach was, sie hasst mich. Aber meine Hoffnung wächst, weil ich sie nicht immer mehr verabscheue, je intensiver ich sie kennenlerne, sondern weil ich mir eingestehen muss, dass ich sie nicht durchschauen kann. Und das sind Federn, mit denen sich nur sehr wenige am königlichen Hof schmücken können. An den meisten verliere ich bereits das Interesse, bevor sie überhaupt den Mund aufgemacht haben. Doch sie ist nicht so leicht zu lenken. Das hoffe ich jedenfalls.

Wenn mein Bruder sie zu sich ins Boot holt, dann kann sie mir gefährlich werden. Das ist schon einmal passiert bei einer Person, von der ich nicht gedacht hätte, dass sie sich gegen die Wahrheit stellen könnte. Und auch, wenn ich mir immer wieder sage, dass ich eigentlich nichts mehr verlieren kann, so muss ich mir doch eingestehen, dass das nicht stimmt. Ich kann noch sehr viel verlieren. Das Recht auf Freiheit zum Beispiel. Oder mein Leben.

Ich muss dieser Marlene einen Anhaltspunkt liefern, der sie hinterfragen lässt, ob sie sich wirklich mit Eventus verbünden soll. Sie muss sich ja nicht auf meine Seite stellen – das wird sie sowieso niemals tun – aber das soll mir recht sein, solange sie auch nicht auf seiner steht. Um das zu erreichen, darf ich ihr keine verzweifelte Geschichte auftischen, die sie als Verschwörungstheorie abtut. Nein, ich werde mich morgen erneut mit ihr unterhalten und ihr einen versteckten Hinweis geben. Irgendeine besondere Wortwahl, was Kryptisches, das sie durchschauen wird, wenn sie tatsächlich schlau genug ist. Sollte sie sich allerdings als hohlköpfig herausstellen, darf es meinem Bruder nicht suggerieren, dass ich irgendwelche Pläne schmiede.

Ich massiere mit den Fingerknöcheln meine Stirn. Ich bin doch so idiotisch, dass ich ernsthaft denke, eine Frau könne irgendetwas ändern. Vermutlich ist es nur mein Bedürfnis nach Abwechslung, das mich zum Scheitern verurteilte Pläne schmieden lässt. Oder aber meine zum Himmel schreiende Verzweiflung.


Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt