Kapitel 36 - Martha

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Ich steige aus der Kutsche, welche das Wappen der Familie von Kroesus trägt. Vor mir ragt der Palast in die Höhe. Ich betrachte ihn mit gemischten Gefühlen. Es ist der Ort, an dem ich nie hatte sein wollen. Es ist der Ort, an dem viel zerbrochen ist und an dem Ungerechtigkeit die Luft verpestet, die man atmet. Aber es ist auch der Ort, der mich zu meiner inneren Stärke geführt hat. Es ist komisch, zurückzukehren. Aber es fühlt sich vertraut an. Und auf unbestimmte Weise gut.

Meine Ankunft könnte nicht unterschiedlicher zu jener ersten sein, die so lange Zeit zurückliegt. Keine Fanfaren, kein Spalier, nicht eine Menschenseele ist zu sehen. Alle wohnen dem Prozess bei, der sich in diesen Mauern zuträgt und über die Zukunft des Reiches entscheiden wird.

Zwei Wochen haben wir in der Försterhütte im Wald verbracht, ehe uns von Alfons persönlich die Nachricht überbracht wurde, dass ihre Anklage erfolgreich gewesen ist. Ich war erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der alles vonstattengegangen ist. Es mussten Beweise vorgetragen und abgewogen werden und ich bin sicher, dass Eventus bis zuletzt darum gekämpft hat, die Anklage zurückweisen zu können. Doch ein Fürst von Kroesus ist einfach viel zu wichtig, um seine Anliegen nicht ernst zu nehmen. Mit dem Urteil, dass Theodoras Name missbräuchlich verwendet wurde, eröffnete das Gericht einen zweiten Prozess. Wieder mit Titus als Angeklagtem, da das Gerichtsverfahren von damals erneut aufgerollt wird, und doch mit komplett anderen Aussichten, was seine Freisprechung angeht. Eventus als Kläger ist bizarrer Weise derjenige, der weit mehr unter Beobachtung steht. Es ist kein Urteil über ihn gefallen, seine Schuld ist nicht bewiesen, aber die Menschen können angesichts des Vorgehens bei Gericht nicht mehr ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließen.

Ich streiche mein graues Kleid glatt und gehe die große Treppe zum Eingang hinauf. Am Portal werde ich von einem Gerichtsdiener in Empfang genommen. Ich folge ihm durch Flure und Gänge, die ich zuvor noch nie gesehen habe, in den Seitenflügel des Palastes, wo sich der Gerichtssaal befindet. Meine Nerven sind flatterig, denn alles ist so zum Greifen nahe. Heute bin ich hier, um als Zeugin auszusagen. Und in den nächsten Tagen wird das Urteil gefällt werden, welches den ganzen Spuk beenden muss. Zumindest hoffe ich ganz stark auf einen guten Ausgang.

Schweigend stehen wir vor der großen Eichenholztür, hinter der Eventus und Titus gegeneinander kämpfen. Ein Türflügel wird geziert von dem geschnitzten Relief der römischen Göttin Iustitia, die eine gigantische Waage in den Händen hält. Auf dem anderen prangt in Messingbuchstaben der Spruch „iura novit curia" – das Rechte wird das Gericht wissen. Ich muss daran glauben, dass sich diese Worte bewahrheiten.

Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, ehe sich der Türflügel mit den Buchstaben öffnet. Ein weiterer Gerichtsdiener kommt mir entgegen, er begleitet Moritz. Unsere Blicke treffen sich und mein Verlobter nickt mir ermutigend zu. Ich spüre, wie die Anspannung ein wenig von mir ablässt.

„Als zweite Zeugin berufe ich die Hofdame Marlene Griffel in den Zeugenstand", tönt es aus dem Gerichtssaal und der Gerichtsdiener, der nach wie vor bei mir steht, meint: „Man ist nun bereit für Sie, Edle Dame." Ich nicke und betrete in seiner Begleitung den Gerichtssaal. Im ersten Moment fühle ich mich zurückversetzt an den Tag, an dem Titus gebrochen in das Amphitheater geschleift wurde, um hingerichtet zu werden. Denn auch dieser Ort ist kreisrund aufgebaut, mit aufstrebenden Rängen und Bänken aus dunklem Holz. In mir macht sich ein Gefühl der Beklemmung breit. Ich zwinge mich dazu, tief durchzuatmen. Dann blicke ich zu Titus. Er lächelt mir zu, als wäre ich – statt seiner selbst – diejenige, um die es hier geht. Er sitzt aufrecht auf der Anklagebank, neben ihm sein Verteidiger. In einigem Abstand dazu sehe ich Eventus, ebenfalls mit rechtlichem Beistand. Er beobachtet mich mit verengten Augen und verkniffenem Mund.

„Kommen Sie", fordert mich der Gerichtsdiener auf und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich nehme in der Mitte des kreisrunden Raumes Platz, mit Blick zu den sieben Richtern, die erhöht auf ihren Plätzen thronen und genau zwischen den beiden rechtlichen Parteien. Einen Moment lang ist es im Saal so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Unruhig rutsche ich auf dem harten Stuhl hin und her. Dann erhebt der Oberrichter seine Stimme.

Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt